Bauchschmerzen, beissen, einnässen
Wie merke ich, ob mein Kind an den Folgen der Pandemie leidet?

Covid-19 hat vielen Kindern und Jugendlichen mental zugesetzt. Auch wenn wir uns jetzt in einer entspannteren Phase befinden, sind die Auswirkungen der Pandemie noch zu spüren. Wie merke ich, ob mein Kind betroffen ist?
Publiziert: 27.04.2022 um 11:19 Uhr
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Aktualisiert: 09.06.2023 um 14:36 Uhr
Laut der «Swiss Corona Stress Study» der Universität Basel gab im November 2021 jeder Dritte 14- bis 24-Jährige an, unter depressiven Symptomen zu leiden. Dementsprechend überfüllt sind die psychologischen Dienste in der Schweiz.
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Anna Lea Spörri

An welchen Symptomen erkenne ich, dass mein Kind an den Folgen von Corona leidet?

«Wenn sich das Verhalten oder die Ausdrucksweise des Kindes in kurzer Zeit verändert, ist das ein alarmierendes Zeichen», sagt Udo Baer (72), Mitbegründer des Pädagogischen Instituts Berlin. Gemeinsam mit Claus Koch hat er das Sachbuch «Corona in der Seele» über Kinder und Covid geschrieben. Dafür hat er mit verschiedenen betroffenen Kindern gesprochen – und kommt zum Schluss: Es gibt keine Checkliste mit Symptomen, die eindeutig als Folge der Pandemie verortet werden müssen. Die Symptome sind vielfältig, wie aus den Kinderporträts im Sachbuch hervorgeht. Der neunjährige Tim hat Bauchschmerzen, Max nässt wieder ein, und Louis beisst plötzlich die anderen Kinder in seinem Kindergarten. Die Symptome können gar Suizidgedanken umfassen. Eine Schweizer Studie zeigt, die psychischen Folgen sind weit verbreitet. Laut der «Swiss Corona Stress Study» der Universität Basel gab im November 2021 jeder Dritte 14- bis 24-Jährige an, unter depressiven Symptomen zu leiden. Dementsprechend viel zu tun haben die psychologischen Dienste in der Schweiz.

Sind Symptome altersabhängig?

Grundsätzlich können jegliche Symptome bei Kindern jeden Alters auftreten. Allerdings sind Bauchschmerzen bei kleineren Kindern, insbesondere Kita-Kindern oder Kindergärtnern, häufiger. Weil bei ihnen die Körperwahrnehmung noch nicht vollständig entwickelt ist, verorten sie das unbehagliche Gefühl Angst impulsiv in der Körpermitte, also im Bauch. Im Teenageralter verspüren viele Kopfschmerzen. Auch die Ängste der Kinder können je nach Alter variieren. Bei kleineren Kindern ist die Angst, die Grosseltern anzustecken oder einzelne Freundinnen zu verlieren, verbreitet. Teenager sorgen sich mehr um die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und fühlen sich einsam.

Wie kann ich als Elternteil reagieren?

Eine offene, transparente Kommunikation ist laut Baer das Wichtigste: «Eltern sollen nachfragen und dürfen sich nicht abwimmeln lassen», sagt er. Antwortet ein Kind nicht gleich, rät er Erwachsenen, es nach ein paar Stunden erneut zu versuchen. Nützt auch das nichts, kann die Triangel-Methode helfen: Eltern sollen Seite an Seite mit dem Kind etwas backen, ein Lego-Haus bauen oder das Velo reparieren. In die Aktivität sind dann Eltern, Kind und ein dritter Gegenstand eingebunden, es entsteht ein Triangel. So verschiebt sich der Fokus des Kindes auf die Tätigkeit und es fängt ganz nebenbei an, zu erzählen. Wichtig sei dann abermals das Nachfragen, sagt Baer. So kann man herausfinden, was das Kind genau bedrückt und wo die Pandemie psychisch Spuren hinterlassen hat.

Pädagoge

Dr. Udo Baer (72) ist Diplom-Pädagoge und Mitbegründer des Pädagogischen Instituts Berlin. Sein Buch «Corona in der Seele. Was Kindern und Jugendlichen wirklich hilft» erschien 2021 im Klett-Cotta-Verlag.

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Dr. Udo Baer (72) ist Diplom-Pädagoge und Mitbegründer des Pädagogischen Instituts Berlin. Sein Buch «Corona in der Seele. Was Kindern und Jugendlichen wirklich hilft» erschien 2021 im Klett-Cotta-Verlag.

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Was soll ich als Erwachsener vermeiden?

Eltern dürfen keine Angst haben, den Kindern von ihren Sorgen zu erzählen. «Wir Erwachsene sind Vorbilder, ob wir das wissen oder nicht», sagt Baer. Würden Eltern ihren Kindern nie von ihren Gefühlen erzählen, lernten diese nur, dass man als Erwachsener keine Emotionen zeigen soll. Weil Gefühle bekanntermassen durch Verschweigen nicht verschwinden, ist das schädlich. Auch Erwachsene haben nicht immer alles unter Kontrolle, insbesondere nicht in Pandemiezeiten, und Angst ist eine natürliche Reaktion darauf. Dennoch sollten Eltern eine Beschützerrolle gegenüber dem Kind einnehmen, ihm ein vertrautes Gefühl geben.

Wie zeige ich meinem Kind, dass ich es ernst nehme?

«Praktiziere seelisches Händchenhalten. Hör deinem Kind zu und kommuniziere auf Augenhöhe», rät Experte Baer. Kinder unter drei Jahren verstehen nicht, was eine Pandemie ist. Dennoch merken sie an den Reaktionen der Erwachsenen, dass etwas nicht stimmt. Bei kleinen Kindern kann darum das Zeichnen eines «Virenmonsters» oder eines «Antivirenmonsters» die Pandemie fassbarer machen. Ab dem Alter von vier Jahren kann man gemäss Baer dann anfangen, mit Kindern über die Impfung oder Massnahmen zu sprechen und sie erklären.

Wann muss ich professionelle psychologische Hilfe holen?

Manchmal kann man als Eltern so viel reden und zuhören, wie man will. Kinder und Jugendliche brauchen in gewissen Fällen professionelle Unterstützung. Den richtigen Zeitpunkt dafür zu erkennen, ist schwierig. Es gebe keine objektiven Kriterien, sagt Diplom-Pädagoge Baer. «Das Hauptkriterium ist das Leid des Kindes und das der Eltern. Wenn es zu gross wird und sich durch die elterlichen Möglichkeiten nicht lindern lässt, ist therapeutische Hilfe angesagt», sagt er. Institutionen wie die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich PUK haben spezielle Einrichtungen für Kinder und Jugendliche. Vergleichbare Angebote gibt es in verschiedenen Schweizer Städten. Ausserdem bietet Pro Juventute eine Elternberatung rund um die Uhr an.

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