Auf der Suche nach Schönheit
Zwei Männer und der Mond im Martinsloch

Zweimal im Jahr scheint die Sonne durchs Martinsloch auf die Kirche von Elm GL. Weniger bekannt ist der Mond, der im Felsloch auftaucht. Zwei Zürcher fasziniert dieses Naturereignis so sehr, dass sie einiges auf sich nehmen, um einen kurzen Blick darauf zu erhaschen.
Publiziert: 29.08.2021 um 18:21 Uhr
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Aktualisiert: 30.08.2021 um 09:28 Uhr
Aline Wüst

«Das müsste der Punkt sein.» – «Aber hier hat es Bäume.» – «Das ist doch der eingezeichnete Punkt?» – «Siehst du dort zwischen den Ästen hindurch?» – «Nei.» – «Siehst du das Loch von da?» – «Wir müssen weiter runter.» – «Gibt mir mal die Karte.»

Zwei Männer am Dienstag auf einem Strässchen oberhalb von Elm GL. Eigens angereist aus Horgen ZH und Rümlang ZH, obwohl die Wolken tief über den Bergen hängen. Weil es sein könnte, dass sie es sehen. Das, was sie schon zuvor sahen. Das, woran sie sich nicht sattsehen können. Sie haben extra ein Programm dafür. Von einem Physiker erstellt, der am Paul Scherrer Institut arbeitet. Komplizierte Berechnungen. Es hat nur einen Zweck: Den perfekten Standort zu finden, auf den Meter genau.

«Es müsste hier sein.» – «Nei, da weiter drüben beim Haus.» – «Aber da ist kein Weg.» – «Hier drüben.» – «Zeig mir mal Norden an mit deinem Kompass.» – «Gut. Hier ist es.»

Beat Hürlimann ist Kantonsangesteller und fasziniert vom Martinsloch.
Foto: Aline Wüst
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Da stehen wir also. Auf einer Wiese. Hier wird es geschehen. Um 23.50 Uhr. Hier werden wir sehen, wie der Mond im Martinsloch auftaucht. Da oben unter den Tschingelhörner. Wie er zwei Minuten lang durch das Fenster in der Bergwand leuchtet. Mondlicht wird in unseren Gesichtern schimmern. So zumindest stelle ich mir das vor.

Zwei Stunden zuvor im Gasthaus Sonne an der Dorfstrasse. Die Männer stellen sich vor: Beat Hürlimann (63), Kantonsangestellter, seit 20 Jahren fasziniert vom Martinsloch und darum immer wieder in Elm. Peter Laager (61), Geograf, fasziniert vor allem vom Gestein in dieser Gegend. Wenn der Mond im Felsloch auftauche, stehe er trotzdem jedes Mal staunend da. Und erzählt sogleich, wie der Lichtkegel einmal aus dem Martinsloch über ein Schneefeld glitt. Eine wandernde Lichtspur.

Im Gasthaus Sonne werden die Zigerhörnli mit Apfelmus serviert. Wir unterhalten uns gut. Nach dem Essen wird Beat Hürlimann in die Nacht hinausgehen – den Himmel anschauen. Schauen, ob die Wolken den Blick auf den Berg freigegeben haben. Haben sie nicht. Aber noch bleibt ja Zeit, bis der Mond im Martinsloch erscheint.

«Vielleicht sind die Wolken verschwunden»

Zeit, der Frage nachzugehen, weshalb diese beiden Männer so viel auf sich nehmen für ein bisschen Mond im Felsloch? Was treibt sie an, zwei Stunden Zug und dann noch Postauto zu fahren und danach im Schlafsack draussen auf dem Boden zu schlafen (denn genau das werden die beiden machen in dieser Nacht)? Um dann morgens um 5.04 Uhr das erste Postauto zu nehmen, um rechtzeitig bei der Arbeit zu sein?

In Gasthaus Sonne gibts Dessert. Glarner Pasteten nach Art des Hauses. Beat Hürlimann taucht den Löffel in den Schlagrahm, sagt: «Vielleicht sind die Wolken nun verschwunden.» Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

Gedanklich verlasse ich Elm und gehe zu Maria Jezierska. Diese Frau war eine Überlebende des Holocausts. Nach dem Krieg hat sie über die Zeit in Auschwitz festgehalten, dass man dort nicht einmal auf dem WC allein gewesen sei, die Inhaftierten weder klagen noch ihre Schmerzen verbergen konnten. Jeder sah, wenn man krank war, und jeder, welche Krankheiten das Gegenüber hatte. Man konnte sich nicht eines Briefes freuen noch weinen und auch nicht sterben. Sogar dieses letzte Recht sei den Menschen in Auschwitz genommen worden. Alle abstossenden Erscheinungen des Todes wurden blossgelegt. Und wichtig festzuhalten, war ihr auch: «Der Hunger nach Schönheit liess mich fast wahnsinnig werden, denn alles, was uns umgab – die Erde, die Architektur, die Menschen, die Kleidung – war schmutzig und widerlich.»

Ich wandle in Gedanken weiter nach Paris: 7. Januar 2015. Beim Terroranschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo werden zwölf Menschen ermordet. Die Zeichnerin Catherine Meurisse (41) überlebt. Sie sagte in einem Interview ein paar Jahre später, was ihr den Weg aus diesem Trauma gewiesen hat: Schönheit. «In den Tagen nach dem Attentat und das ganze Jahr 2015 hindurch war ich unmittelbar und instinktiv wie besessen von Schönheit. Schönheit als Gegenpol zu Chaos und Gewalt.» Meurisse suchte die Schönheit also ganz bewusst – beim Umherstreifen in der Natur, in den Bergen, im Wind, im Licht, bei Theaterbesuchen, sie reist nach Rom, in die ewige Stadt, schaut sich die Werke der grossen Maler an. Der Anschlag hat ihr für eine Weile die Erinnerung geraubt, klare Gedanken zu fassen, fiel ihr schwer, sie vergass oft mitten im Satz die Wörter. «Schönheit», sagt sie, «war meine Überlebensstrategie.»

Schönheit wahrzunehmen, braucht Raum

Vergleichbar ist das nicht mit dem, was Hürlimann und Laager tun. Und doch geht es im Kern um das Gleiche. Um Schönheit. Denn die suchen auch Hürlimann und Laager in dieser Nacht.

Schönheit zu erleben, ist ein urmenschliches Bedürfnis. Ihre Abwesenheit schmerzt. Sie zu erleben, ist heilsam. Schönheit wahrzunehmen, berührt uns tief. Ihre Bedeutung ist deshalb nicht zu unterschätzen. Sie zu erleben aber, ist nicht immer möglich. Es gibt eine Untersuchung, die zeigt: Je mehr unser Gehirn mit anderen Sachen beschäftigt ist, desto weniger empfänglich sind wir für die Schönheit, der wir begegnen. Schönheit aufzunehmen, braucht also freien Raum im Kopf.

Zurück ins Gasthaus Sonne. Beat Hürlimann hatte vor mehr als zwanzig Jahren davon gehört, dass in Elm zweimal im Jahr die Sonne durch ein Loch im Felsen auf die Kirchturmspitze scheint. Er fuhr hin, war fasziniert. Das Felsloch liess ihn nie mehr los. Immer und immer wieder will er sehen, wie Lichtstrahlen durch das Martinsloch fallen. Und weil er ständig an die Felswand schaute, wollte er auch mehr über den Fels wissen. Er absolvierte die Ausbildung zum Geo Guide Sardona, so heisst das Gebiet in dem das Martinsloch sich befindet. Die Tektonikarena Sardona wurde 2008 zum Unseco Weltkulturerbe erklärt. In dieser Ausbildung hat er Peter Laager kennengelernt.

Das Loch entstand durch Spannungen im Berg. Oder aber – so erzählt man es sich – wegen Martin. Der Hirte weidete seine Schafe hier in Elm, als ein Riese über die Berge stieg und ihm ein Schaf stibitzte. Martin war wütend, warf seinen Hirtenstab. Der verfehlte den Riesen, schlug stattdessen auf die Felswand, hinterliess das Loch. Beat Hürlimann erzählt dann auch noch den jüngsten Elmer-Zusatz dieser Geschichte: Der Stab prallte ab, fiel ins Tal. Martin fand ihn. Da, wo er ihn aus dem Boden zog, sprudelte Citro, Elmer Citro halt.

Das Warten

Hürlimann bestellt noch einen Kaffee. Es ist kurz vor 23 Uhr. Ihn fasziniere der Mond mehr als die Sonne, sagt er. Weil er jedes Mal von Neuem dastehe und denke: «Vielleicht hat diesmal das Programm versagt. Falsche Zeit oder falscher Ort.» Doch plötzlich erscheine der Mond. Und alle, die dabei sind, höre man nur noch «Ah» und «Oh» seufzen.

Wir müssen los. Draussen versuchen wir, Sterne auszumachen. Wir sehen keinen. Trotzdem gehen wir weiter auf die Wiese. Das Licht der Stirnlampen weist uns den Weg. Und so stehen wir nun da. In den Stuben der Elmer wird es dunkel. Dunkle Berge und die Wälder umgeben uns. Auch Wölfe. Am Wochenende erst haben sie Schafe gerissen. Wir lauschen in die Dunkelheit. Schauen in den Himmel. Richtung Martinsloch. Suchen nach Löchern in der Wolkendecke.

In einer halben Stunde ist Mitternacht. Beat Hürlimann und Peter Laager legen sich in die Wiese. Warten. «Weckt mich, falls ich einschlafe», sagt Hürlimann. Laager blickt in den Himmel: «Es hat viele helle Flecken zwischen den Wolken. Was die wohl bedeuten?»

Ich habe immer noch ein Fünkchen Hoffnung. Es ist 23.45 Uhr. Dann springt die Handyuhr auf 23.50 Uhr. Der Mond taucht im Martinsloch auf. Zwei Minuten lang. Wegen der Wolken sieht das aber keiner von uns dreien.

23.53 Uhr, Hürlimann baut seine Kamera ab. Laager sagt in die Dunkelheit: «Ich finde es auch einfach wahnsinnig schön, hier nachts draussen zu sein.» Wir gehen zurück zur Hauptstrasse, verabschieden uns. An diesem Abend haben wir einfach nur einen in Wolken gehüllten dunklen Berg angestarrt, der schon Millionen von Jahren dasteht. All der Aufwand war für nichts. Gelohnt hat es sich trotzdem. Denn wir alle sind irgendwie auf eine seltsame Weise zufrieden. – Vielleicht berührt ja schon die Vorfreude auf Schönheit etwas in uns Menschen.

Zumindest ich habe in dieser Nacht den Mond doch noch durch das Martinsloch schimmern sehen. Im Traum. Ich kann Ihnen versichern: Es sah atemberaubend schön aus.

Am 20. September bietet Beat Hürlimann die nächste Mondbeobachtung an. Treffpunkt ist um 20.30 Uhr bei der Sportbahn Elm. Die Sonne scheint das nächste Mal am 29. und 30. September durch das Martinsloch in den Dorfkern von Elm.


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