100 Fragen, um Mutter besser kennenzulernen
Wer bist du eigentlich, Mama?

Sie kennt uns besser als wir uns selbst – doch was wissen wir über unsere Mutter? Autor Remo Schraner (26) hat seine neu kennengelernt, indem er ihr hundert Fragen stellte.
Publiziert: 13.05.2017 um 23:41 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 07:31 Uhr
Remo Schraner

Ich packe die Fotoalben unter den Arm – in der Hand den Notizblock mit hundert Fragen. Los geht das Abenteuer. Mir bleibt eine Stunde Autofahrt, um den Plan nochmals genau zu überdenken. Ich will meine Mutter besser kennenlernen, ihr all die ungefragten Fragen stellen, die mir eingefallen sind. Dafür habe ich mit ihr das heutige Treffen vereinbart.

Erst war Mutter etwas überrascht, dann willigte sie ein. Nun wollen wir zusammen ­kochen, essen und viel reden. Welche Geheimnisse hat der Mensch, der mich seit über 26 Jahren durchs Leben begleitet? Werden meine Fragen unser ­Verhältnis verändern? Wenn ja, zum Guten oder zum Schlechten? Das Beruhigende: Wir kochen in Mamas Küche eine Lasagne à la Nonna, nach Art meiner sizilianischen Grossmutter. Die schmeckt immer. Also die Lasagne. Ziel erreicht. Mama wohnt seit Jahren in diesem Haus. Auf dem Schild über ihrer Klingel steht «Stincone». Seit sieben Jahren trägt sie wieder ihren Mädchennamen, nach der Scheidung hatte sie ihn sofort zurück in ihr ­Leben geholt. Mir ist er noch immer fremd. Ich klingle, meine Mutter empfängt mich mit einer Umarmung, drängt sogleich auf den Einkauf. «Ich fahre, dann kannst du mit deinen ­Fragen anfangen!» Also los. 

Du bist in Sizilien geboren, ­wenige Monate später kamt ihr in die Schweiz. Welche Erinnerungen hast du an den Wocheneinkauf mit deinen Eltern?
Du weisst ja: Nonno war Saisonnier. Wenn ich die zwei Kilo schweren Brotlaibe nach Hause schleppen musste, war mir das immer sehr peinlich. Da sah jeder sofort, dass wir Ausländer waren.

Mutter und Sohn: Angela Stincone (54) und SonntagsBlick-Autor Remo Schraner (26).
Foto: Remo Buess

Weshalb war das schlimm?
Ich wollte als Ausländerin nicht ­auffallen. Denn ich hatte schon früh erfahren, dass man hier deshalb anders behandelt wird. Meine Eltern wurden zum Beispiel immer geduzt. Das tat mir schon als Mädchen weh.

Du wolltest lieber als Schweizerin wahrgenommen werden?
Nein. Ich wollte lediglich nicht wegen meiner Herkunft vorverurteilt werden. Meine Heimat ist die Schweiz, ich bin hier aufgewachsen, bin mit ihr vertraut. Meine Wurzeln aber ­liegen in Italien. Beide Länder gehören zu mir. Basta.

Mama. In jungen Jahren trug sie einen burschikosen Kurzhaarschnitt. «Deine Nonna hoffte, dass dadurch meine Haare dicker nachwachsen», sagt sie. Mit 54 trägt sie ihre Haare offen, mittellang, hat eine ­lockige Mähne. Nach der Schule absolvierte sie eine Lehre zur Kleinkinderzieherin, heute arbeitet sie in einer Heilpädagogischen Schule.

«Nimm die Milch von ganz ­hinten im Regal!»

Ihr Vater war stolz auf sein Mädchen, sehr stolz sogar. Er selber brachte es zwar nie übers Herz, den Schweizer Pass anzunehmen. Ihm war es aber wichtig, dass seine ­Kinder schweizerisch wurden. Sie sollten eine bessere Zukunft haben als er – er, der nicht mal zur Schule konnte. Mein Umgang mit den Nationalitäten war anders, unverkrampfter. Als Jugendlicher trug ich Shirts mit grossem «Italia»-Aufdruck. Ich war stolz auf meine Herkunft. Alle sollten wissen, dass aus mir einmal ein heissblütiger Liebhaber wird. Den Schweizer in mir liess ich erst später zu. Heute bin ich passionierter Cumuluspunkte-Sammler. «Nimm die Milch von ganz ­hinten im Regal!», ruft Mutter. Wir stehen im Einkaufszentrum, und gerade hat sie gemerkt, dass ich die ­vorderste Milchtüte in den Wagen legen wollte. «Die hinten haben ein späteres Verfallsdatum. Nimm die.» Als Kind waren mir solche Ratschläge peinlich. Gerade in der Öffentlichkeit.

Welche Besonderheit hat dir dein Vater beigebracht?
Sich stets korrekt zu verhalten, egal wie respektlos das Gegenüber ist. Sich aber auch nie unterkriegen zu lassen.

Und deine Mutter?
Die Wohnung nie unaufgeräumt zu verlassen. Denn vielleicht kommt ja die Feuerwehr. Und immer frische Unterwäsche anzuziehen, damit man vorbereitet ist, falls man unverhofft ins Spital gehen muss (lacht).

Ich schmunzle und greife nach der Milch hinten im Regal. Gedankenversunken schiebe ich den Einkaufswagen weiter – und entdecke auf dem Aktionsregal eine Körperwaage. Ich weiss nicht wie, aber Mutter hat meinen Blick offenbar bemerkt, denn plötzlich liegen zwei Waagen im Wagen. «Eine ist für dich, die andere für deinen ­Bruder.» Gerechtigkeit war ihr schon immer wichtig.

Was war deine bislang grösste Herausforderung?
Die Erziehung meiner Kinder. Ich machte mir ständig Gedanken, ob ich euch zu viel oder zu wenig von meinen Werten mitgebe. Das richtige Mass zu finden, war nicht immer einfach.

Was bereust du rückblickend?
Nichts. Jeder Tag und jede Situation formte mich zu der Person, die ich heute bin. Und fühle mich rundum wohl in meiner Haut.

Du hast mir beigebracht, jeden Abend zu beten, sich für den Tag zu bedanken. Das mache ich noch heute ab und zu. Und du?
Manchmal vergesse ich es. Aber wenn ich es tue, bete ich für die Gesundheit meiner Liebsten. Und dass alles gut kommt. So kann ich meine Sorgen ablegen.

Was ist deine grösste Sorge?
Am meisten Angst habe ich davor, ­alleine alt und krank zu werden. Ich weiss nicht warum.

Diese Antwort überrascht. Seit einem halben Jahr wohnt Mutter mit ihrem Verlobten zusammen. Und sie scheint glücklich zu sein. Vor drei Jahren, am Anfang der Beziehung, war sie aus meiner Sicht gar zu glücklich. Ich erinnere mich etwa an die Diplomfeier, damals fingerte sie ständig am Handy herum, schrieb ihrem Schwarm Whatsapp-Nachrichten, statt mit mir zu ­feiern. Es brauchte Zeit, bis ich akzeptieren konnte, dass ihre Aufmerksamkeit nicht mehr allein meinem jüngeren Bruder und mir galt. Heute bin ich froh, dass sie sich nach der Scheidung neu verlieben konnte.

Zu Hause angekommen, packen wir die Lebensmittel in Mutters ­Küche aus – die Fotoalben und mein Fragebogen liegen in Griff­nähe. Wir schälen und hacken den Knoblauch, dünsten ihn im Olivenöl an. Der Duft erinnert mich an die vielen Sommerferien mit Mama und Papa in Sizilien.

Wenn du zurückdenkst: Wonach riecht deine Kindheit?
Nach Zuckerwatte, davon durfte ich immer an der Basler Herbstmesse ­naschen. Und nach Lasagne. Sie erinnert mich an all die schönen Familienfeste.

Wer brachte dir das Kochen bei?
Meine Mutter. Ich half schon früh in der Küche mit. Freiwillig. So konnte ich ihr einiges abschauen.

Gibt es etwas, was du deine Mutter gerne gefragt hättest?
Ja, vieles. Wie ich als Baby war. Wie sie meinen Vater kennengelernt hat. Wie viele Verehrer sie vor ihm hatte.

Nonna kämpfte lange gegen Krebs – leider vergebens. Wie ist das, seine Mutter zu verlieren?
Schrecklich. Ich hatte das Gefühl, ich müsste gleich mit ihr sterben. Dein Vater, du, meine Geschwister und ich ­gaben uns damals gegenseitig Halt.

Fühlst du dich alleine ohne Eltern?
Nein, gar nicht. Ich habe nicht das Gefühl, keine Eltern zu haben. Ich fühle mich sehr verbunden mit ihnen. Mindestens einmal in der Woche denke ich an sie.

Grossvater mochte ohne seine Frau nicht weiterleben

Mutter gibt das Hackfleisch in die Pfanne, ich schaue ihr dabei zu, die Worte hallen nach. Ich überlege mir zum ersten Mal, was es bedeutet, keine Mutter mehr zu haben. Mich schauderts. Nonna ist vor ­21 Jahren verstorben. Die Familie war damals bei ihr – ich fünfjährig. Vier Jahre später folgte ihr mein Grossvater – ohne seine Frau mochte er nicht weiterleben.

Als Nonno Suizid beging, warst du wütend. Konntest du trauern?
Ich dachte, ich könnte ihm das nie verzeihen. Er liess einfach seine Kinder und seine ganze Familie zurück. Erst viel später konnte ich seine Entscheidung akzeptieren – und damit um meinen Vater trauern. Heute hege ich keine Wut mehr gegen ihn. Aber, sag mal: Hast du denn keine Fragen zum Leben? Mach doch bitte die Pelati-Büchsen auf.

Wir schütten die Tomaten ins ­Gebrutzel. Um keine Resten zu ­vergeuden, schwenkt Mutter die Büchsen mit wenig Wasser aus und kippt es danach in die Pfanne. «Das machte schon deine Nonna so.» Der Sugo muss nun drei Stunden köcheln, deshalb setzen wir uns an den Küchentisch und widmen uns den Alben. Auf einem Foto entdecke ich Mama und Papa. Es ist schön, meine Eltern so verliebt zu sehen.

«Lasagne erinnert mich an die vielen Familienfeste»: Angela Stincone auf die Frage ihres Sohnes, wonach ihre Kindheit duftete.

Wie gut ist eigentlich der Sex, wenn man die Absicht hat, schwanger zu werden?
Er ist sehr prickelnd. Und gleichzeitig ist es auch ziemlich unromantisch, wenn man die Tage zählt und ausrechnet, wann der Eisprung passieren wird. Aber am Tag der Schwangerschaft ist alles wunderschön – und der Rest vergessen.

Wann hattest du denn zum ersten Mal Sex?
Als ich 17 Jahre alt war, mit meinem ersten Freund. Da waren wir schon ein Jahr lang zusammen.

Hast du es deinen Eltern erzählt?
Wo denkst du hin? Solche Gespräche gab es nie. Über Sex wurde nicht ­geredet.


Wie hat sich deine Sexualität seit dem ersten Mal verändert?
Nach meinen Wechseljahren habe ich sie neu entdeckt. Sie ist viel befreiender und lustvoller geworden. Wahrscheinlich auch, weil ich mir ums Schwangerwerden keine Gedanken mehr machen muss (lacht).

Ich lache verlegen mit, bin aber über meine eigenen Fragen erschrocken. Mir sind die Antworten peinlich. Um Augenkontakt zu vermeiden, schaue ich auf den Notizblock. Darauf steht «Wo wurde ich gezeugt?». Will ich wirklich wissen, wo meine Eltern im Jahre 1990 Sex hatten? Mir ist heiss, ich versuche, meine Verlegenheit zu verbergen, indem ich mit dem Block spiele. Ich beschliesse: Gewisse Dinge sollen geheim bleiben – diese Frage lasse ich aus. Derweil blättern wir im ­Album weiter, zu den Babyfotos.

«Nun heisse ich Remo und bin trotzdem schwul»

Wäre es ausschliesslich nach dir gegangen: Wie würde ich heute heissen?
Sven oder Yves. Dein Vater aber meinte, dass beide Namen zu schwul klingen.

Nun heisse ich Remo und bin trotzdem schwul. Wie ist das für dich zu wissen, dass ich keine Kinder haben werde?
(überlegt lange) Ich habe kein dringendes Bedürfnis, Grossmutter zu werden. Zudem könntest du ja ein Kind adoptieren. Du wärst bestimmt ein guter Vater.

Kennst du mich denn so gut?
Ja, zumindest deine Grundzüge. Du bist ein kreativer und eigensinniger Mensch. Positiv wie negativ.

Du hast dir ja sicher vorgestellt, was einst aus mir werden würde. Entspreche ich diesem Bild?
Nun ja, du hast es mir nicht wirklich leicht gemacht, mir ein scharfes Bild von dir zu machen, davon, wie du einmal sein wirst. Du hast ja immer wieder neue und immer wieder unkonventionelle Wege eingeschlagen. Aber was du wissen sollst: Ich bin stolz auf dich.

Der Küchenwecker schlägt Alarm, sein Piepsen unterbricht unser Gespräch: Der Sugo ist fertig. Mama zeigt, wie sie die Béchamelsauce zubereitet. Früher hat sie mich auf die Küchenablage gesetzt, damit ich ihr beim Kochen zusehen konnte. Dadurch habe ich viel gelernt.

Gemeinsam schichten wir die ­Lasagne: Teigblatt für Teigblatt. Zuoberst streuen wir Parmesan und schieben das Werk in den Ofen. Mutter setzt sich zurück an den Tisch. «Komm, was willst du sonst noch wissen?»

Du warst mit meinem Vater ­zwanzig Jahre verheiratet und hast dich von ihm getrennt. Bist du gescheitert?
Die Ehe ist gescheitert, nicht ich oder wir. Ich bereue nichts. Aber es ist gut, dass dieses Kapitel abgeschlossen wurde.

Wärst du ohne Kinder früher gegangen?
Vielleicht.

Weshalb hast du unseren Familiennamen nicht behalten?
Weil der nach der Scheidung zum abgeschlossenen Kapitel gehörte.

Was liebst du an meinem Vater noch heute?
Dass er auch heute noch immer für euch Kinder da ist.

Wir sitzen nebeneinander, ich stelle meine restlichen Fragen. Was mich wundert: Sie beantwortet alle, obwohl wir vorgängig ein ­Vetorecht vereinbart hatten. «Zwischen den Generationen gibt es ­keine Vertraulichkeiten, nur Vertrauen», hatte einst ein kluger Kopf treffend gesagt. Er hat recht – obwohl meine Fragen mitunter intim sind, der Respekt bleibt gewahrt.

Was die hundert Fragen und unser Gespräch aber nachhaltig verändert haben: Die Achtung gegenüber meiner Mutter (und damit selbstredend auch jene vor meinem Vater) wurde gefestigt, ja sogar gesteigert. Ohne zu wissen, wer ich bin oder wer ich sein werde, haben mich meine Eltern geliebt und alles daran gesetzt, dass es mir gut geht. Alltäglich ist das nicht. Aber täglich sollte ich mich daran erinnern. Ich hole die Weingläser aus der Vitrine und büschle derweil meine Gedanken und Gefühle. Währenddessen holt Mutter die Lasagne aus dem Ofen. Bevor unsere Mutter-Sohn-Zeit mit geniesserischem Schweigen ausklingt, die beiden letzten Fragen:

Was hast du dir vorgenommen zu tun, jetzt, wo keins deiner Kinder mehr bei dir wohnt?
Meine persönlichen Bedürfnisse ­wieder in den Vordergrund zu ­stellen. Ich will herumreisen und unvernünftig sein.

Unvernünftig?
Zum Beispiel einmal betrunken sein. Das war ich noch nie. l

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In welchen ­Momenten fühlst du dich alleine?
Worauf musstest du verzichten, weil du Kinder hast?
Wie gut kennst du mich?
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Hast du deine grosse Liebe gefunden?
Wann hattest du das letzte Mal Liebeskummer?
Wie sieht deine dunkle Seite aus?
Was möchtest du unbedingt noch erleben?
Was hast du von mir gelernt?
Gibt es etwas, was du mich schon lange fragen wolltest?

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