Editorial zum 1. August und Zermonienmeister Blocher
Die Schweiz ist robuster als gedacht

Die Alpenrepublik schöpft ihre Kraft aus der direkten Demokratie. Nur eine Sorge gibt es im Volk, mit der Politiker gewinnen können. Die SVP hat das verstanden.
Publiziert: 30.07.2023 um 09:13 Uhr
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Aktualisiert: 30.07.2023 um 09:55 Uhr
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Am Dienstag schlägt wieder die Stunde des Rituals. Vor rot-weissen Flaggen und im Qualm der Grillwürste halten Politiker und Prominente ihre Ansprachen. Die Mischung aus Feuer, (Bier-)Rausch und Weltendeutung verleiht dem Termin fast etwas Schamanistisches.

Zu den routinierten Zeremonienmeistern des 1. August gehört Christoph Blocher. Wenn der SVP-Tycoon seinen Auftritt absolviert, wird er gewiss wieder die Rede halten, die er in seiner langen Karriere so oder so schon x-fach vorgetragen hat: Die Classe politique, die in die EU will, die Einwanderung und die «in Bern oben», die nur für sich schauen – na, Sie wissen schon …

Diese ewige Wiederkehr steht symbolisch für die Stabilität der helvetischen Politik. Tatsächlich werden sich die Parteienprozente bis zum Wahlherbst laut Umfragen höchstens im tiefen einprozentigen Bereich verschieben – was verzweifelte Chronisten dazu veranlasst hat, aus Bewegungen innerhalb des Stichprobenfehlers grosse Dramen herauszulesen. Statistik ist nun mal Glückssache.

In seinem Element: SVP-Patron Blocher hält 2004 in Herrliberg eine 1.-August-Rede.
Foto: Keystone
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Überhaupt verblüfft die Schweiz mit ihrer Robustheit – viele Krisen, die dann doch nicht eingetroffen sind, wurden schon herbeigeschrieben. Aus den letzten Tagen gibt es etliche Beispiele: Der Rechtsstaat steht vor dem «Kollaps». Die landesweite Gesundheitsversorgung droht zusammenzubrechen. Unsere Neutralität macht uns zum Schurkenstaat.

Gewiss – mit seinem Exportverbot für Panzer für die Ukraine hat sich der Bundesrat im Ausland keine Freunde gemacht. Und der von Alain Berset analysierte westliche «Kriegsrausch» wird genüsslich von Putins Botschafter zitiert.

Eine so intensive öffentliche Auseinandersetzung mit der eigenen politischen Identität aber findet lediglich in einer direkten Demokratie wie der Schweiz statt. Auch deshalb zeigt sich die Eidgenossenschaft strapazierfähiger als gedacht. Die Volkswirtschaft steckt sogar das Ende der zweitgrössten Schweizer Bank mit ein paar Blessuren weg. Jedenfalls bisher.

Welche Karte kann eine Partei also noch spielen? Die der Zuwanderung. Denn Dichtestress und Wohnungsnot sind neben der Teuerung die letzten existenziellen Sorgen der Mehrheit. Darum wird Blochers SVP im Herbst ihren Vorsprung als stärkste politische Kraft vielleicht sogar noch ausbauen können.


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