Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Ein menschenverachtendes Geschäft

Es herrscht viel Ahnungslosigkeit, wenn es ums Thema Prostitution in der Schweiz geht. SonntagsBlick-Reporterin Aline Wüst bereitet diesem Unwissen jetzt ein Ende. Sie hat mit rund 100 Prostituierten gesprochen und ein erschütterndes Buch zum Thema geschrieben.
Publiziert: 15.08.2020 um 22:53 Uhr
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Aktualisiert: 01.10.2020 um 11:40 Uhr

Prostitution ist bezahlter sexueller Missbrauch. Zu dieser Schlussfolgerung kam, wer vor zwei Jahren im SonntagsBlick Aline Wüsts Reportage über Prostitution in der Schweiz las. Wobei vieles im Dunkeln blieb. Käuflicher Sex gehört zwar zur Infrastruktur unseres Landes, Zehntausende Männer bedienen sich dieses Angebots, der Staat berücksichtigt es bei der Berechnung des Bruttoinlandprodukts. Darüber hinaus jedoch herrscht Ahnungslosigkeit. Eine Ahnungslosigkeit, die so gross ist, dass im Grunde nur Absicht als Ursache dafür in Frage kommt. Politik und Behörden wollen gar nicht wissen, was vor sich geht.

Wer sind die Frauen, die zum Verkauf stehen? Wie sind sie in diese Lage
geraten? Wohin fliesst all das Geld?

Niemand konnte Aline Wüst diese Fragen beantworten. Für die Reporterin gab es darum kein Zurück in den gewohnten Alltag. Sie reduzierte ihr Pensum auf der Redaktion und reiste nach Bulgarien. Sie reiste nach Rumänien. Monatelang setzte sie sich Abend für Abend ins Vorzimmer eines Bordells irgendwo in der Deutschschweiz. Sie sass da, bis sich die Frauen ihr anvertrauten. «Ich habe während dieser Recherche gelernt, nichts zu fordern, sondern zu warten. Auf die Momente, in denen die unsichtbare Mauer fällt und ich einen Blick auf diese Frauen erhaschen kann.» So schreibt es Aline Wüst in ihrem Buch des Zu­hörens, das dieser Tage erscheint.

Gieri Cavelty, SonntagsBlick-Chefredaktor.

«Piff, Paff, Puff» heisst das Buch. Ein Kindervers und Wortspiel, aber kein Kalauer. Der Titel bezieht sich auf eine Szene in einem der vorderen Kapitel: Ein Freier sagt den Abzählreim auf, weil er sich für keine der Prostituierten entscheiden kann. Das Sprüchlein steht für die Ignoranz,
mit der wir dem Thema begegnen. Alles nicht so schlimm, es geht ja nur um menschliche Existenzen.

In lakonischer Sprache führt uns die Autorin vom Kindervers zu den schlimmsten Abgründen. Erst hören wir Floskeln. Die Frauen sagen: «Es ist wie bei jedem Job. Mal macht es mehr Spass, manchmal weniger.» Bald zeigen sich Risse, die Frauen tönen nun so: «Ich mache das nicht gern. Ich hasse es.» Schliesslich tritt das ganze Elend zutage. Alkohol, Drogen, Medikamente, Orgien von Gewalt.

Sprechen, sprechen, sprechen: So hat die französische Politikerin Sandrine Rousseau eine Strategie gegen sexuelle Gewalt formuliert. «Die anklagenden Worte von Frauen stören die etablierte Ordnung.» Aline Wüst verfährt nach Rousseaus Prinzip. Zum ersten Mal überhaupt gibt jemand den vielen Frauen in den Schweizer Bordellen eine Stimme. Diese Stimme sagt dann zum Beispiel: «Ich frage mich, warum die Schweizer Regierung so etwas erlaubt. Das zerstört so viele Frauen und Mädchen.»

Es gibt kaum Prostitution ohne Zwang. Auch zu diesem Befund führt die Recherche. Praktisch
hinter jeder Prostituierten steht ein Zuhälter, der sich eine goldene Nase verdient. Zu Beginn des Buches lesen wir, wie die Frauen im Bordell ständig am Handy hängen. Später stellt sich heraus: Sie stehen in Kontakt mit ihren Zuhältern, minutiös teilen sie den Geschäftsgang mit.

Das Gesetz verbietet Menschenhandel und Zuhälterei. Bloss fehlen der Polizei die Mittel, um die Strukturen offenzulegen und an die Hintermänner heranzukommen. – Da ist sie wieder, diese gewollte Ahnungslosigkeit. Der Staat möchte gar nicht wissen, was passiert. Es hat sich bisher ja niemand beklagt. Und es ist ja so praktisch mit diesen namenlosen Frauen aus Osteuropa, aus Asien, aus Afrika, die gleich verschwinden, sobald sie nicht mehr gebraucht werden.

Aline Wüsts Arbeit ändert diesen Zustand grundlegend. Jetzt kann keiner mehr behaupten, er habe von nichts gewusst.

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