«Eltern sollten sich an die drei K halten»
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Kinderarzt im Gespräch:«Eltern sollten sich bei digitalen Medien an die drei K halten»

Kinderarzt Oskar Jenni klagt an
«Wir geben für die Kinder zu wenig Geld aus»

Elf Fachleute haben gemeinsam ein Buch zur Kindheit geschrieben. Ein Gespräch mit Herausgeber und Entwicklungsforscher Oskar Jenni über den Umgang der Gesellschaft mit Kindern, Beruhigung für Eltern, Diagnosen und Vielfalt.
Publiziert: 02.05.2024 um 00:04 Uhr
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Aktualisiert: 02.05.2024 um 10:52 Uhr
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Karen SchärerTeamlead Gesellschaft

Zwar ist es schon fast 20 Jahre her, doch noch immer gilt Kinderarzt Oskar Jenni als «Nachfolger von Remo Largo». Er nimmt es gelassen. Im Institut für Entwicklungspädiatrie des Universitäts-Kinderspitals Zürich, wo auch der weltberühmte Largo gewirkt und geforscht hatte, liegt Jennis neuestes Buch auf dem Tisch, ein Weissbuch zur Kindheit, das er gemeinsam mit anderen Fachleuten geschrieben hat.

Blick: Kinder grossziehen ist komplizierter geworden, einverstanden?
Oskar Jenni: Ja. Früher war viel klarer, was die Gesellschaft von den Menschen verlangt. Heute steht der Mensch als Individuum im Zentrum. Das ist gut, wir können uns entfalten.

Aber?
Die Gesellschaft hat die Verantwortung für die Kinder damit an die Eltern abgegeben. Das ist eine herausfordernde Aufgabe.

Oskar Jenni in seinem Büro nahe des Universitäts-Kinderspitals Zürich.
Foto: Philippe Rossier
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In Bezug auf Themen der Kindheit wie Erziehung oder Schule gibt es polarisierte Haltungen. Braucht es deshalb «eine Beruhigung», wie Ihr Buch «Kindheit» im Untertitel heisst?
Die Gesellschaft ist in einer grossen Unruhe, und das schwappt auf die Kindheit über. Kinder sind der Seismograf der Gesellschaft, und man hat den Eindruck: Vielen Kindern geht es nicht wirklich gut. Von daher: Ja, es braucht eine Beruhigung.

Das Buch «Kindheit» geschrieben vom Thinktank «Für das Kind»

Das Buch «Kindheit – Eine Beruhigung» legt den Wissensstand der Forschung dar und deckt Widersprüche auf. Gemeinschaftlich daran gearbeitet haben elf renommierte Fachleute aus Bereichen wie Pädagogik, Philosophie, Psychologie, Ökonomie und Pädiatrie.

Dem interdisziplinären Thinktank «Für das Kind» gehören an:

  • Oskar Jenni, Entwicklungspädiater
  • Holger Baumann, Philosoph und Bioethiker
  • Barbara Bleisch, Philosophin
  • Judith Burkart, biologische Anthropologin
  • Moritz Daum, Entwicklungspsychologe
  • Günter Fink, Ökonom
  • Silja Häusermann, Politikwissenschaftlerin
  • Roland Reichenbach, Erziehungswissenschaftler
  • Dieter Rüttimann, Pädagoge
  • Heidi Simoni, Psychologin
  • Daniel Süss, Medienpsychologe und Kommunikationswissenschaftler

Oskar Jenni (Hrsg.), «Kindheit – Eine Beruhigung», Kein & Aber, 2024

Das Buch «Kindheit – Eine Beruhigung» legt den Wissensstand der Forschung dar und deckt Widersprüche auf. Gemeinschaftlich daran gearbeitet haben elf renommierte Fachleute aus Bereichen wie Pädagogik, Philosophie, Psychologie, Ökonomie und Pädiatrie.

Dem interdisziplinären Thinktank «Für das Kind» gehören an:

  • Oskar Jenni, Entwicklungspädiater
  • Holger Baumann, Philosoph und Bioethiker
  • Barbara Bleisch, Philosophin
  • Judith Burkart, biologische Anthropologin
  • Moritz Daum, Entwicklungspsychologe
  • Günter Fink, Ökonom
  • Silja Häusermann, Politikwissenschaftlerin
  • Roland Reichenbach, Erziehungswissenschaftler
  • Dieter Rüttimann, Pädagoge
  • Heidi Simoni, Psychologin
  • Daniel Süss, Medienpsychologe und Kommunikationswissenschaftler

Oskar Jenni (Hrsg.), «Kindheit – Eine Beruhigung», Kein & Aber, 2024

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Viele Eltern setzen sich unter Druck; sie wollen ihr Kind bestmöglich fördern, oder es nach einer bestimmten Denkschule aufwachsen lassen, zum Beispiel «bedürfnisorientiert». Was beruhigt Eltern?
Sie können sich an die «fünf V» halten, dann machen sie nichts falsch.

Was sind die «fünf V»?
Zunächst ein vertrautes und verlässliches Umfeld, das Grenzen und Geborgenheit bietet. Dann verfügbare und verständnisvolle Bezugspersonen, die für ihr Kind da sind und ihm mit Empathie begegnen. Und schliesslich: Eltern sollen voller Liebe sein.

Das ist eine hohe Flughöhe. Einen konkreten Tipp geben Sie nicht?
In puncto Verlässlichkeit sind Struktur, Rituale und Gewohnheiten wie zum Beispiel gemeinsame Abendessen und Unternehmungen das A und O. Das sind die Dinge, die die Elternschaft ausmachen. Mit diesen «fünf V» legt man den Boden für eine gute Entwicklung der Kinder. Aber welchen Weg die Kinder letztlich einschlagen, können wir nicht vorhersagen oder gar bestimmen.

Die interdisziplinäre Zusammenarbeit für das Buch verlangte von allen, auch andere Perspektiven einzunehmen und um gemeinsame Positionen zu ringen.
Foto: Philippe Rossier

Wie meinen Sie das?
Unser Einfluss als Eltern ist viel geringer, als wir meinen. Ein Kind sucht sich selbst – je älter, je mehr – seine Nische und findet seinen individuell passenden Lebensweg. Eltern sollten daher gelassen sein. Das ist etwas ganz Wichtiges. Und: Man muss als Mutter oder Vater auch mit Fehlern und punktuellem Scheitern umgehen können. Elternschaft ist eine komplexe Angelegenheit, sie prägt einen fürs Leben, ist eine transformierende Erfahrung. Das ist der Lohn, den man bekommt – und auch ein Plädoyer fürs Kinderkriegen.

Welches Thema in der Elternschaft hat Sie selbst bei Ihren eigenen Kindern herausgefordert?
Rückblickend erkenne ich, dass Elternschaft einfacher ist, wenn die Kinder klein sind. Man hat mehr Möglichkeiten, zu bestimmen. Wenn die Kinder älter werden, dann wird es komplizierter, dann muss man sich zurücknehmen und den Kontrollverlust ein Stück weit akzeptieren. Die digitalen Medien sind dann eine immense Herausforderung.

Viele Eltern machen sich deswegen Sorgen.
Wenn die Kinder Sport machen, zur Schule gehen, Freunde treffen, das Leben also hauptsächlich in der realen Welt stattfindet, dann ist eine beschränkte Zeit online durchaus okay. Ich hoffe aber, dass der Gesetzgeber in Zukunft gewisse Einschränkungen macht. Schliesslich steht er in der Verantwortung, die Jugendlichen zu schützen.

Der Amerikaner Jonathan Haidt schreibt in seinem aktuellen Buch, die Stunden auf Social Media verhinderten wichtige Hirnentwicklungen in der Jugend.
Das Hirn ist komplizierter, als es Haidt haben möchte. Das Thema Social Media und Smartphones ist eben nicht schwarz oder weiss.

Mit seinem Buch «Babyjahre» trug Remo Largo damals viel zur Beruhigung der Eltern bei: Seine Forschungen zeigten, dass grosse zeitliche Unterschiede in der Entwicklung eines Kindes völlig normal sind. Warum pochen wir heute trotzdem so stark auf Normierung?
Dank Remo Largo haben wir akzeptiert, dass Kinder sehr verschieden sind. Doch diese Unterschiede können – beispielsweise in einem Klassenzimmer für die Lehrperson – auch überfordernd sein. Dann versucht man, diese Vielfalt einzugrenzen, die Komplexität zu reduzieren. Der Normierungsdruck hat auch mit dem Leistungsdruck zu tun, der in den letzten Jahren zugenommen hat. Eines muss man aber betonen.

Was?
Als Gesellschaft brauchen wir unterschiedliche Menschen. Unterschiede zwischen Menschen sichern das Überleben unserer Spezies.

Seit 2005 Leiter der Entwicklungspädiatrie

Oskar Jenni (57) ist Professor für Entwicklungspädiatrie an der Universität Zürich, Entwicklungsforscher und Kinderarzt am Universitäts-Kinderspital Zürich. 2005 übernahm er von Remo Largo die Leitung der Abteilung für Entwicklungspädiatrie. 2018 gründete er den interdisziplinären Thinktank «Für das Kind».

Oskar Jenni (57) ist Professor für Entwicklungspädiatrie an der Universität Zürich, Entwicklungsforscher und Kinderarzt am Universitäts-Kinderspital Zürich. 2005 übernahm er von Remo Largo die Leitung der Abteilung für Entwicklungspädiatrie. 2018 gründete er den interdisziplinären Thinktank «Für das Kind».

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Trotzdem: Die Zahl der Abklärungen und Diagnosen nimmt ständig zu.
Bei uns am Kinderspital Zürich betragen die Wartezeiten für Abklärungen wegen Verhaltens- oder Entwicklungsstörungen aktuell zwölf bis 18 Monate.

Ist es gut, eine Diagnose zu bekommen?
Wir stecken oft im Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma. Eine Diagnose macht für ein einzelnes Kind Ressourcen frei, damit es sich bestmöglich entwickeln kann, zum Beispiel in Form von Therapien oder Medikamenten. Eine Diagnose kann Eltern auch entlasten. Gleichzeitig ist sie eine Etikette und führt potenziell zu einer Stigmatisierung.

Oskar Jenni lehrt an der Universität, forscht, und behandelt Kinder und Jugendliche am Universitäts-Kinderspital Zürich.
Foto: Philippe Rossier

Aktuell gibt es einen Anstieg von psychischen Störungen bei jungen Menschen.
Wir schauen ja jetzt hin! Vor 50 Jahren schaute niemand hin. Die Kinder haben im Stillen gelitten. Hinzuschauen heisst nicht, immer gleich eine Diagnose zu vergeben. Wir müssen herausfinden, welche individuelle Unterstützung ein Kind benötigt. Und dafür braucht es finanzielle Ressourcen.

Die sind ungenügend?
Ja, wir geben für die Kinder zu wenig Geld aus!

Was heisst das?
Zum Beispiel ist die Kindermedizin stossend unterfinanziert: Kinder sind nicht gesünder als Erwachsene, trotzdem betragen die Gesundheitskosten pro Kopf im Kindesalter nur einen Bruchteil der Kosten im Erwachsenenalter. Für die frühe Kindheit geben wir hierzulande zwei Prozent des Bruttosozialprodukts aus, für die Bildung vier Prozent. Verglichen mit den zwölf Prozent für die Altersrenten ist das viel zu wenig!

Mit welchen Folgen?
Kinder sind unsere Zukunft. Wenn wir ihnen vermitteln, dass sie nichts wert sind, dann ist das für den Zusammenhalt der Generationen verheerend.

Wie wäre es besser?
Ich plädiere dafür, dass man gesellschaftliche Themen immer auch vom Kind her denkt. Eine Gesellschaft wird daran gemessen, wie sie mit Kindern umgeht. Das könnten wir definitiv besser.

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