Interview mit Psychologe Michael Slepian (35)
«Geheimnisse isolieren uns»

Im Schnitt haben Menschen fünf Geheimnisse, von denen sie niemandem erzählen. Der amerikanische Psychologieprofessor und Autor Michael Slepian (35) erklärt, was daran problematisch ist.
Publiziert: 20.04.2023 um 13:51 Uhr
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Aktualisiert: 20.04.2023 um 16:26 Uhr
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Valentin RubinRedaktor Service

Blick: Herr Slepian, warum ist es so schwierig, jemandem intime Geheimnisse anzuvertrauen?
Michael Slepian
: Wir haben Angst vor unangenehmen Konsequenzen oder befürchten, dass jemand anders über uns denkt, wenn wir uns öffnen. Wenn wir aber Geheimnisse, die uns selbst betreffen, mit niemandem teilen, kann das schädlich sein fürs Wohlbefinden.

Inwiefern?
Geheimnisse isolieren uns. Sie belasten uns so, dass wir uns oftmals zurückziehen.

Welche Art von Geheimnissen belasten uns am meisten?
Geheimnisse in Zusammenhang mit finanzieller Not, sexuellem Verlangen, psychischen Problemen oder der Vergangenheit der eigenen Familie. Aber auch Lügen, die wir früher erzählt haben, können sehr belasten. Jeder und jede von uns hat im Schnitt fünf solche Geheimnisse. Es wäre wichtig, dass wir mit jemandem über sie sprechen.

Pssst, nicht weitererzählen! Doch, sagt der Experte!
Foto: Shutterstock

Wem vertrauen wir ein solches Geheimnis am besten an?
Am besten Personen, die davon betroffen sind. Wenn wir das nicht übers Herz bringen, können wir auch mit einer Person darüber zu sprechen, die nicht involviert, aber einfühlsam ist. Einige Menschen gehen zu einer Psychologin oder einem Psychologen, um über Geheimnisse zu sprechen. Andere vertrauen sich einem guten Freund oder dem Coiffeur an, den sie nur alle zwei Monate sehen. An wen man sich wendet, muss jeder für sich selbst abschätzen. Erfahrungsgemäss bereut es fast niemand, anderen seine Geheimnisse anzuvertrauen – unabhängig davon, wem man sie erzählt.

Der Moment, in dem man ein Geheimnis offenbar, sollte gut gewählt sein. Im Affekt zu handeln, ist kontraproduktiv.
Foto: Getty Images

Warum ist das so?
Wenn man sich jemandem anvertraut, signalisiert das der Person: Ich vertraue darauf, dass du mich verstehst und mir hilfst.

Wann sollte man ein Geheimnis offenlegen?
So früh wie möglich. Wir sollten versuchen, proaktiv auf den richtigen Zeitpunkt hinzuarbeiten. Etwa, indem wir das Gegenüber vorwarnen und sagen, dass wir bei Gelegenheit über etwas reden müssen. Auch wenn das unangenehm ist, ist es die bessere Wahl, als die andere Person zu überrumpeln oder – noch schlimmer – in einem emotionalen Streit mit einem Geheimnis herauszuplatzen.

Was, wenn wir uns nicht dazu durchringen können, jemanden einzuweihen?
Wir können Geheimnisse in einem Tagebuch aufschreiben. Das funktioniert aber nur, wenn wir dabei versuchen, neue Perspektiven auf das Problem zu bekommen. Wir sollten uns fragen: Ist es wirklich so schlimm? Was würden mir andere raten? Wenn wir einfach schreiben, was wir erlebt haben und was wir verheimlichen, wiederholen wir unsere negativen Gedanken unhinterfragt. Das Tagebuch wird so eine Erinnerung an das eigene Leiden. Das hilft niemandem.

Er kennt sich von Haus aus mit Geheimnissen aus

Michael Slepian (35) ist Professor für Unternehmensethik und Psychologie an der Columbia University in New York und forscht zu Geheimnissen, Arbeitskultur und Motivation. Letztes Jahr erschein sein Buch «The Secret Life of Secrets» (Das geheime Leben der Geheimnisse).

Michael Slepian (35) ist Professor für Unternehmensethik und Psychologie an der Columbia University in New York und forscht zu Geheimnissen, Arbeitskultur und Motivation. Letztes Jahr erschein sein Buch «The Secret Life of Secrets» (Das geheime Leben der Geheimnisse).

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Sie wissen aus eigener Erfahrung, dass sich das Teilen von Geheimnissen lohnt, wie Sie in ihrem neusten Sachbuch schreiben.
Meine Eltern verheimlichten mir lange, dass ich mithilfe einer Samenspende zur Welt kam und mein biologischer Vater jemand war, den ich nicht kannte. Ich war geschockt, als ich das Mitte zwanzig erfuhr. Und für meine Eltern muss die Last dieses Geheimnisses enorm gewesen sein. Es mir zu erzählen, hat sie davon befreit. Und unsere familiäre Beziehung ist deswegen in keiner Weise schlechter geworden.

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