Interview mit Architekturkritiker Benedikt Loderer
«Wir haben ja das Geld, also wollen wir den Neubau»

Der Berner Architekturkritiker Benedikt Loderer (79) über die Umweltbelastung neuer Bauten, die mögliche Umnutzung alter Spitäler und die Unmöglichkeit, Kirchen abzureissen.
Publiziert: 23.06.2024 um 20:28 Uhr
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Aktualisiert: 24.06.2024 um 10:24 Uhr
Das Spitalzentrum Biel schliesst voraussichtlich 2028.
Foto: Philippe Rossier
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Herr Loderer, möchten Sie gerne in einem Operationssaal leben?
Benedikt Loderer: Es ist kein Operationssaal mehr, wenn man ihn umbaut.

Aber es war doch ein Saal, in dem es um Leben und Tod ging, in dem Blut floss.
Wenn Sie schauen, was in einem Altstadthaus passiert sein kann, wo die ältesten Teile 400 Jahre alt sind – da war jeder Mord und Totschlag möglich.

Sie setzen sich für den Erhalt des alten Spitalzentrums in Biel ein, um Wohnraum zu schaffen, wenn 2028 in der Nachbargemeinde Brügg der Spitalneubau steht. Warum?
Auf der einen Seite sind es ökologische Gründe, auf der anderen architektonische: Das Spital ist Biels zweite Altstadt, eine aus dem 20. Jahrhundert.

Wie meinen Sie das?
Man hat dort mit einem Blöckli angefangen. Und dann hat man immer wieder etwas Neues drangeklebt – eigentlich das, was man vor 100 Jahren organischen Städtebau nannte. Ein Ensemble von solcher räumlicher Qualität bringt man gar nicht mehr hin.

Und welches sind die ökologischen Gründe, die gegen einen Abriss sprechen?
Da schmeisst man Unmengen grauer Energie fort, Energie für Herstellung, Transport und Einbau von Bauteilen. Und dann braucht es nochmals viel mehr graue Energie für den Neubau – das ist aus ökologischer Sicht eine Katastrophe.

Ins alte Spitalzentrum sollen Wohnungen reinkommen. Ist eine andere Umnutzung denkbar?
Man muss die Überlegungsrichtung umkehren. Es gibt dort unzählige Räume, auch viele unterirdische. Und diese Räume lesen sich die Nutzung aus, die Nutzung wird den Räumen nicht aufgepfropft. 

Philippe Rossier
Benedikt Loderer

Benedikt Loderer kommt 1945 in Bern zur Welt. Nach der Bauzeichnerlehre erlangt er die Matura auf dem zweiten Bildungsweg, studiert Architektur an der ETH Zürich und schliesst 1981 mit einer Doktorarbeit ab. Als «Stadtwanderer» ist er in dieser Zeit Architekturkritiker beim «Tages-Anzeiger». 1988 gründet er zusammen mit Köbi Gantenbein «Hochparterre», die Zeitschrift für Architektur und Design. Loderer lebt heute in Biel BE und ist seit 2017 für die Grünen im städtischen Parlament, dessen Präsident er bis Ende 2024 ist.

Philippe Rossier

Benedikt Loderer kommt 1945 in Bern zur Welt. Nach der Bauzeichnerlehre erlangt er die Matura auf dem zweiten Bildungsweg, studiert Architektur an der ETH Zürich und schliesst 1981 mit einer Doktorarbeit ab. Als «Stadtwanderer» ist er in dieser Zeit Architekturkritiker beim «Tages-Anzeiger». 1988 gründet er zusammen mit Köbi Gantenbein «Hochparterre», die Zeitschrift für Architektur und Design. Loderer lebt heute in Biel BE und ist seit 2017 für die Grünen im städtischen Parlament, dessen Präsident er bis Ende 2024 ist.

Was heisst das für eine mögliche Umnutzung?
Es zeigt sich schnell, welche Räume für Wohnungen geeignet sind und welche nicht. Es braucht keinen Masterplan, der aufzeigt, wo man in zehn Jahren ist. Man muss einen Prozess organisieren, der lange dauern kann. Es wird Zwischennutzungen geben, die kommen und gehen.

Auch kulturelle oder gewerbliche?
Es gibt viele Räume, die sich fürs Gewerbe durchaus eignen, wenn es nicht gerade eine Giesserei ist. Aber warum sollte es dort nicht eine Schreinerei geben?

Gibt es bei der Renovation von Spitälern Probleme, etwa mit verstrahlten Röntgenräumen?
Diese geringen Strahlenmengen machen mir keine Angst. Problematischer ist Asbest, das man sicher irgendwo findet – das war damals, als das Spital im Bau war, ein äusserst beliebtes Isolationsmaterial.

In den Jahren 2016 bis 2030 erhalten schweizweit rund 70 Kliniken einen Neubau. Steht beim Altbau immer der Abriss im Vordergrund?
Die, die zuerst abreissen wollen, sind die Spitalbetreiber. Die wollen einen Neubau, und in vielen Fällen haben sie das Land nicht dafür. Dann ist es immer gäbig, wenn man etwas abrupfen und dort an derselben Stelle etwas Neues hinstellen kann.

Warum steht kaum je zur Diskussion, ein Spital zu renovieren, um es als Spital zu erhalten?
Ein Teil ist sicher der technische Fortschritt, der neue Einrichtungen mit sich bringt. Aber entscheidend ist die Frage: Wer will schon ein gebrauchtes Auto, wenn er ein neues haben kann? Wir haben ja das Geld, wir wollen den Neubau.

Haben wir zu viel Geld?
Sicher würden wir weniger neu bauen, wenn wir weniger Geld hätten – ist doch klar.

«Ein Ensemble von solcher Qualität bringt man nicht mehr hin», sagt Benedikt Loderer über das Spitalzentrum Biel.
Foto: Philippe Rossier

Das heisst mit anderen Worten: Renovieren ist ein Armutszeugnis.
Ja, für gewisse Leute sicher. Aber man muss auch ehrlich sein und sagen: Ein Spital zu renovieren, kommt nicht billiger. Wenn wir Glück haben, kommt das etwa gleich teuer wie ein Neubau.

Was macht eine Renovation so teuer?
Die Planungskosten sind höher, der Bauvorgang komplizierter. Als Architekt habe ich mehr Unwägbarkeiten und muss mehr zeichnen – meine Arbeit ist schwieriger, aber ich bekomme kaum mehr Honorar. Da ist es rentabler, ich baue etwas Neues.

Und trotzdem findet mit «Aufbruch statt Abbruch» und «Countdown 2030» ein Umdenken in der Architekturszene statt. Gehen wir auf eine Zeit zu, in der Renovationen zunehmen?
Es ist zu hoffen, vor allem aus ökologischen Gründen. Wenn ich mir die Architekturschulen anschaue, dann ist alles bereits wunderbar. Diese neue Bewegung wuchs in den letzten zehn Jahren heran. Aber nun müssten auch die Bauherren mitziehen – die erstellen immer noch lieber Neubauten.

Müssten Behörden mehr Gebäude unter Denkmalschutz stellen, um die Wertschätzung für das Alte zu fördern?
Wenn wir ein Haus unter Schutz stellen, dann frieren wir das Volumen ein. Das heisst, der Besitzer kann das Haus nicht abreissen, aber auch nicht ausbauen, etwa durch eine Aufstockung. Das ist faktisch eine Wertverminderung. Darum wehren sich Eigentümer gegen den Denkmalschutz.

Oder müsste man die graue Energie verteuern, sodass sich ein Besitzer zweimal überlegt, ob sich ein Abriss lohnt?
Ja, die graue Energie zu besteuern, das wäre eine Überlegung wert. 

Das kommt in Baden zu spät: Dort will man das alte Kantonsspital abreissen, wenn 2025 der Neubau steht – die Bausubstanz genüge nicht mehr den aktuellen Anforderungen.
Das ist eine Schutzbehauptung, um den Abriss zu rechtfertigen. Was heisst schon «aktuellen Anforderungen»: Genügt Ihnen meine alte Badewanne? Die Leute sind pragmatisch und nehmen vieles in Kauf, wenn sie nur schon eine Wohnung bekommen.

«Man hat dort mit einem Blöckli angefangen», so Loderer, «und immer wieder etwas Neues drangeklebt.»
Foto: Philippe Rossier

Ein junger Architekt aus dem Umfeld «Aufbruch statt Abbruch» zeigt in einem Konzept auf, wie man aus dem alten Kantonsspital Baden Wohnräume für 275 Personen erschaffen könnte.
Ja, den Bettenblock könnte man gut gebrauchen für Wohnungen – warum eigentlich nicht? Aber dann kommt die Trägheit des Hirns: Man möchte nicht noch nachdenken über die Umnutzung des alten Gebäudes – «das ist ein Seich, das ist ein Krampf» – und so reisst man lieber ab. Die geistigen Unkosten sind zu hoch.

Im alten Felix-Platter-Spital in Basel ist die Umnutzung geglückt: Das Gebäude von 1967 bietet seit 2023 Platz für 135 Wohnungen und Gewerberäume.
Das ist ein Vorzeigebeispiel und könnte Schule machen. Denn neben den Spitalneubauten werden in Zukunft auch Spitalschliessungen für leere Bettenhäuser sorgen.

Ja, im Nachgang zu den nationalen Gesundheitsabstimmungen von vorletztem Sonntag kamen Stimmen auf, die zur Kostenreduktion weniger Spitäler fordern.
Früher hiess es: «Jedem Täli sis Spitäli.» Durch diese Planung haben wir heute in der Schweiz ein dichtes Netz an Kliniken. Die Zahl der Schliessungen dürfte in den nächsten Jahren die der Neubauten weit übersteigen.

Spitäler zu Wohnblöcken, Fabriken zu Lofts – und in Zürich ist eine ehemalige Kirche sogar ein Parlament. Haben Umnutzungen Zukunft?
Bei den Kirchen kommt noch eine riesige Welle auf uns zu: Durch die Austritte bei den Reformierten und Katholiken verlieren immer mehr Gotteshäuser ihren ursprünglichen Zweck. In der Schweiz gibt es schon über 200 umgenutzte Kirchen.

In England gibt es eine Kirche, die jetzt ein Hallenbad ist, in den Niederlanden eine Buchhandlung in einem Gotteshaus – bei Kirchen scheint es im Gegensatz zu Spitälern eine Hemmung zu geben, die abzureisen.
Ja, eine Kirche ist etwas, was ewig steht – die reisst man nicht ab. Da gibt es eine kulturelle Hemmung.

Aus ästhetischen Gründen? Denn im Vergleich mit den nüchternen Zweckbauten von Spitälern sind Kirchen meist reich verziert.
Das steht nicht im Vordergrund. In Baden begründet man den geplanten Abriss des alten Kantonsspitals nicht damit, er sei hässlich, sondern die Bausubstanz genüge den Anforderungen nicht mehr.

Loderer vor dem Spitalzentrum: «Das, was man vor hundert Jahren organischen Städtebau nannte.»
Foto: Philippe Rossier

Die Abrissbirne schwingt nicht nur bei Spitälern, sondern weiterhin auch bei Privathäusern und Genossenschaftssiedlungen bedrohlich.
Das hat mit den Ausnützungsreserven zu tun. Das Raumplanungsgesetz fordert die Verdichtung. Sie ist nötig und richtig. Aber wenn eine Erbengemeinschaft ein Haus verkauft, dann ist der neue Besitzer nicht an der Immobile interessiert, sondern am Land, genauer der Nutzungsreserve, die er maximal ausnutzen will und muss.

Gibt es eine Verdichtung, die ohne Abbruch alter Gebäude möglich ist?
Ja, die heisst differenzierte Erhaltung.

Das müssen Sie erklären!
Das funktioniert wie die Denkmalpflege. Die legt den Schutzumfang fest, das heisst, was zu erhalten ist. Genauso bestimmt man beim Abbruch den ökologischen Erhaltungsumfang, das, was man stehen lassen muss. Die differenzierte Erhaltung führt zu besseren, weil differenzierteren Bauten.

Renovieren könnte also wirklich in Mode kommen. Gab es schon einmal eine Zeit, in der der Erhalt alter Bausubstanz üblich war?
Solange Baumaterialien teuer waren und Transportwege schwierig, hat man vieles wieder gebraucht. Darum sind Häuser in den Altstädten so alt geworden – da hat man immer wieder etwas renoviert und umgebaut. Sie können bei einem Altstadthaus also nicht fragen, wie alt es ist, sondern welcher Teil ist wie alt.

Haben Sie ein Beispiel?
Am Rindermarkt 17 in Zürich kam bei einer Renovation zum Vorschein, dass man wahrscheinlich im frühen 18. Jahrhundert einen verkohlten Balken eines anderen Gebäudes für den Dachstock wiederverwendet hatte – Recycling in früheren Zeiten.

Zum Schluss: Wie geht es mit dem Spitalzentrum Biel weiter?
Zurzeit erarbeitet die Stadt mit dem Spital eine sogenannte Potenzialstudie. Sie soll herausfinden, was überhaupt möglich ist. Die Ergebnisse sollten im nächsten Jahr vorliegen.

Haben Sie Hoffnung?
Ich bin überzeugt, dass das kein Abbruchobjekt ist. Und die Spitalmenschen, die sind auch schon fast so weit.

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