Im abgelegensten Tal der Schweiz – Adriana Zanoli (36) ist von der Stadt ins Val Poschiavo zurückgekehrt
«Auf dem Weg zur Piazza grüssen mich zehn Leute»

Obwohl das Val Poschiavo einer der abgelegensten Orte der Schweiz ist, kehren immer wieder Menschen in ihre Heimat zurück. Blick hat drei Rückkehrerinnen getroffen.
Publiziert: 13.07.2024 um 15:40 Uhr
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Aktualisiert: 13.07.2024 um 15:50 Uhr

Der Lago di Poschiavo schimmert im gleissenden Sonnenlicht mit den schneebedeckten Berggipfeln um die Wette. Üppig grüne Wiesen und Felder erstrecken sich rundherum. Aus der Ferne wirken die Häuser im Tal wie kleine, weisse Tupfer. Hoch und immer höher hat sich der Berninaexpress zuvor geschlängelt. Quer durchs Engadin, vorbei an Gletschern, Bergen und Seen. Über eine Sprachgrenze hinweg und bis hinter den Berninapass. Von da an geht die Reise bergab, hinunter in eines der abgeschiedensten Täler der Schweiz: das Val Poschiavo in Graubünden. 

An diesem warmen Mittwoch im Juni scheint die Welt hier heil. Und sie wird heil bleiben. Anders als andere Täler in Graubünden, im Wallis oder im Tessin wird Poschiavo verschont bleiben von den verheerenden Unwettern der letzten Wochen. Aber fest steht: Der Alpenraum steht vor Problemen. Nicht nur die zunehmenden Extremwetterereignisse machen ihm zu schaffen, sondern auch die Abwanderung und die Überalterung. Wie soll man das Leben in den Bergen und in ihren Tälern gestalten? Und wie soll es weitergehen? Das sind die Fragen, denen man sich stellen muss.

Berge, Patrizierhäuser und schmucke Strässchen: das Dorfzentrum Poschiavos.
Foto: Philippe Rossier

Im Val Poschiavo scheint man zumindest teilweise eine Antwort gefunden zu haben. Zwar gibt es auch hier deutlich mehr Ältere als Junge. Anders als viele andere Bergtäler hat man es aber geschafft, dass die Bevölkerungszahl in den letzten 30 Jahren relativ stabil geblieben ist. Etwa 4500 Menschen leben hier, 3500 von ihnen im Hauptort Poschiavo. Und immer mehr Menschen – auch junge – entscheiden sich dazu, in ihre Heimat zurückzukehren. Wer sind diese Menschen? Und weshalb kehren sie in dieses abgelegene Tal zurück?

In Poschiavo GR leben rund 3500 Menschen.
Foto: Philippe Rossier

Bahnhof Poschiavo, Mittagszeit. «Bundì», grüsst eine ältere Frau. Im Puschlav, wie das Tal auf Deutsch heisst, wird der ortsübliche Dialekt Pus’ciavin oder Italienisch gesprochen. Zwei Knaben auf Fahrrädern überqueren eine Brücke. Sie spannt sich über den Poschiavino, der durch das Tal rauscht und im angrenzenden italienischen Veltlin mündet. An einem Gebäude am Flussufer prangt das Wandgemälde eines riesigen Steinbocks. Als wolle er signalisieren: Wir befinden uns zwar im südlichsten Zipfel des Bergkantons, aber immer noch in Graubünden.

Über die Brücke, nur einige Hundert Meter weiter, zieht sich die Hauptstrasse Via da Mez durch das Borgo, das historische Zentrum Poschiavos. Ein paar Touristinnen und Touristen schlendern die gepflasterte Strasse entlang. Vorbei an kleinen Läden, einer Metzgerei und den prächtigen, pastellfarbenen Patrizierhäusern. Hier befindet sich auch Paola Gianolis (61) Büro.

Wer studieren will, muss weg

Gianoli ist im Tal aufgewachsen. Wie schon viele vor ihr musste sie es als junge Frau verlassen. Zwar gibt es in Poschiavo eine Berufsschule, aber wer ans Gymnasium gehen oder studieren will, muss fort. Nach Chur, ins Engadin oder nach Lugano etwa. «Wir haben es fast in der DNA, wegzuziehen», sagt Gianoli. Die meisten aus ihrem Jahrgang seien damals gegangen, erinnert sie sich. «Das ist ein Problem in Poschiavo. Es fehlen junge Menschen, die hierbleiben.»

Über 30 Jahre lebte die Übersetzerin und Tanzvermittlerin in ihrer Wahlheimat Genf. Eigentlich hätten Gianoli und ihr Mann, der ebenfalls aus Poschiavo stammt, erst nach der Pensionierung wieder nach Poschiavo ziehen wollen. Doch dann kam es anders. Zufällig sahen die beiden eine Wohnung, die ihnen gefiel, und kauften sie. Das war vor acht Jahren. «Poschiavo hat eine Anziehungskraft», sagt Gianoli. «Die Lebensqualität ist sehr hoch.» Und das Leben zudem günstiger als in Genf. «Viele Dörfer und Täler sterben aus, aber nicht Poschiavo. Es ist ein urbanes Dorf.» Ja, man sei zwar etwas isoliert. Trotzdem finde man alles, was man zum Leben brauche. 

Paola Gianoli hat den Tanz ins Tal gebracht. Vor acht Jahren ist sie nach Poschiavo zurückgekehrt.
Foto: Philippe Rossier

Damit meint Gianoli nicht nur die Läden oder das Spital, sondern auch das kulturelle Angebot. Das Theater oder die Musik. Den Tanz brachte aber Gianoli mit ins Tal: So holt sie seit 2018 regelmässig das «Steps», eines der wichtigsten Tanzfestivals der Schweiz, nach Poschiavo. Immer wieder organisiert sie Residenzen und Tanzaufführungen im Tal. Letztere manchmal auch im Depot der Rhätischen Bahn. Für ihr Engagement wurde Gianoli 2022 vom Bund mit dem Schweizer Preis Darstellende Künste ausgezeichnet. Eine sehr grosse Ehre, sagt Gianoli. Und sie sagt auch, dass das hier im Puschlav Tradition habe: «Das Auswandern, Zurückkommen und Sachen-Mitbringen.»

Zurück auf der Via da Mez schliesst Gianoli ihr Velo auf und schlendert durch das Borgo Richtung Ortsrand. Zwischen den steinernen Häuserfassaden blitzen immer wieder grüne Flecken hervor. Gärten mit Rosen, Hagebutten und Obstbäumen. «Um hier zu leben, braucht es Wurzeln und Flügel», schrieb der Puschlaver Schriftsteller Massimo Lardi einst.

Gianoli schiebt ihr Fahrrad durch das Borgo, das historische Zentrum Poschiavos.
Foto: Philippe Rossier

Wie viele abgeschiedene Täler hat auch Poschiavo eine lange Geschichte der Abwanderung. Daran erinnert die Zuckerbäcker-Ausstellung, das Festival dei pasticcieri. Im ganzen Ort hängen bunte Plakate. Sie zeigen prächtige Torten, daneben Bilder von Männern, Frauen und Kindern in Kleidern vom vorletzten Jahrhundert. Die Ausstellung begibt sich auf die Spuren der Menschen, die vor allem im 19. Jahrhundert ihr Glück in der Fremde suchten. Sie wanderten nach ganz Europa aus und gründeten dort Konditoreien und Cafés. Aber: Sie kehrten ins Tal zurück. Und brachten ihren Reichtum mit. Davon zeugt die Häuserzeile am südlichen Ortsrand, auch «Spaniolen»-Viertel genannt. Herrschaftliche Villen, die die Rückkehrer erbauen liessen.

Lange Geschichte von Abwanderung und Rückkehr

Heute sind es nicht mehr die Zuckerbäcker, die zurückkehren, sondern häufig die, die in der Stadt studiert haben. Wie Jana Baumann (26). Sie sitzt unter einer Pergola unweit des Bahnhofs. Hinter ihr thront ein imposantes, sandsteinfarbenes Gebäude mit dunkelgrünen Fensterläden. Das Al Crott. Vor einigen Monaten hat sie das Restaurant übernommen. Auf der Karte stehen typische Puschlaver Gerichte wie Pizzoccheri, Capunet und Crespelle. 

Alles hätte anders kommen können. Denn vor gut vier Jahren zog Baumann nach Zürich, um an der Zürcher Hochschule der Künste Fine Arts zu studieren. «Eigentlich habe ich immer gesagt, dass ich nie zurückkommen werde.» Eigentlich. Dann kauften ihre Eltern das Al Crott. 

Jana Baumann hat in Zürich studiert. In Poschiavo arbeitet sie heute als Lehrerin und führt ein Restaurant mit Bar.
Foto: Philippe Rossier

Sie renovierten die ehemalige Brauerei und Eisfabrik. Im grossen Keller, in dem früher das Eis produziert wurde, eröffnete Baumann erst eine Bar. «Ich war fast mit dem Studium fertig und dachte mir: Warum nicht?» Dann folgte das Restaurant. Das sei nicht so geplant gewesen. «Aber es hat sich irgendwie ergeben.»

Im Inneren des Restaurants ist es ruhig, der Mittagsservice ist durch. An den weissen, holzvertäfelten Wänden hängen Schwarz-Weiss-Fotos, die die lange Geschichte des Gebäudes abbilden. Baumann zeigt auf ein Foto, auf dem eine Menschenmenge unter einer überdachten Holzkonstruktion abgelichtet wurde. Es ist auf 1908 datiert. «Damals haben sie die Eröffnung der ersten Strecke der Berninabahn gefeiert», erklärt sie.

Die Holzkonstruktion steht noch immer neben dem Al Crott. Baumann führt nach draussen. Von der Decke hängt eine grosse Leinwand, die für das EM-Public-Viewing eingerichtet wurde. Männer schleppen derzeit Stangen herum. Sie bauen die Bühne für ein Musikfestival auf. Fast jede Woche finden im Al Crott Konzerte oder Partys statt. Da treten immer wieder Bands und DJs aus der Region auf. «Die Leute kommen aus dem Dorf, aus den umliegenden Tälern und sogar aus Italien hierher», sagt Baumann. Mit diesen Events verfolgt sie ein Ziel: «Ich will das anbieten, was mir während meiner Jugend gefehlt hat.»

Baumann ist glücklich, dass sie nach Poschiavo zurückgekehrt ist. «Mein Freund, meine Familie und meine beste Freundin sind hier.» Aber sie ist eine der wenigen aus ihrem Jahrgang, die den Schritt gewagt haben. Dabei hätten viele Heimweh, sagt sie. «Die meisten kommen sicher einmal pro Monat zurück.» Sie hatte Glück: Sie konnte nicht nur die Bar und das Restaurant übernehmen, seit letztem Sommer unterrichtet sie auch Kunst an der Sekundarschule im Dorf. Doch vielen gehe es nicht so. «Einige meiner Freundinnen würden gerne zurückkommen, aber es fehlt an Jobs.»

Das verlorene Tal

Wegen seiner Abgeschiedenheit trug Poschiavo einst den Übernamen «valle perduta», das «verlorene Tal». Spätestens mit dem Bau von Berninabahn und Kraftwerken Anfang des 20. Jahrhunderts war das aber vorbei. Nach der grossen Zuckerbäcker-Abwanderung im 19. Jahrhundert zogen die Menschen zurück ins Tal. 

Auch heute arbeiten immer noch viele Puschlaverinnen und Puschlaver bei der Rhätischen Bahn und dem Energieunternehmen Repower, es sind die grössten Arbeitgeber im Tal. Daneben gibt es aber auch viele kleine Gewerbe- und Handwerksbetriebe. Einen solchen Handwerksbetrieb führt Adriana Zanoli (36). Er befindet sich im Süden des Dorfs, nur wenige Autominuten vom Al Crott entfernt. Zanoli hat ihr Atelier in ihrem Elternhaus eingerichtet, hier lebt und arbeitet sie auf zwei Stockwerken.

Adriana Zanoli arbeitet mit Stoffen, Leder und Wolle aus dem Tal.
Foto: Philippe Rossier

Zanoli führt in einen grossen Raum. Er wird fast vollständig von einem Tisch eingenommen, der in der Mitte steht. Hier näht sie, bepolstert und restauriert Möbel und fertigt Lederwaren an. An den Wänden hängen Stoffe, die Regale sind mit Fäden in allen möglichen Farben gefüllt. «Kaffee?», fragt sie. Und kommt kurz darauf mit einem dampfenden Bialetti-Kännchen zurück. 

Zwölf Jahre lang war Adriana Zanoli weg. In Lugano besuchte sie das Kunstgymnasium, dann machte sie einen Bachelor als Konservatorin und Restauratorin. In St. Gallen liess sie sich schliesslich zur Innendekorateurin mit Fachrichtung Polsterin ausbilden. «Irgendwann hat es mich langsam wieder zurück ins Tal gezogen», erzählt Zanoli. 2019 kam sie wieder nach Poschiavo zurück und machte sich selbständig.

Sie legt einen weiss-blau gestreiften Stoff auf den Tisch. Ein typisches Puschlaver Stoffmuster, erklärt Zanoli, die im Vorstand der Handweberinnen Poschiavos ist. Später wird sie aus dem Stoff Bettwäsche nähen. «Ich arbeite viel mit den Menschen aus dem Tal.» Hier beziehe sie auch Wolle. Oder Leder. Zum Beispiel für die Gurte, die sie zusammen mit einer Freundin, die Goldschmiedin ist, fertigt. Neben ihrer eigenen hat Zanoli auch mit ihr eine Firma gegründet.

Einer der vielen Gärten Poschiavos.
Foto: Philippe Rossier

«Ich habe es mir lange und gut überlegt», sagt Zanoli über ihre Rückkehr. «Eigentlich habe ich immer gesagt, dass ich vor der Pensionierung nicht zurückkomme.» Für das Leben hier seien nicht alle gemacht. «Es ist klein, jeder kennt jeden, ein richtiges Dorf halt.» 

Irgendwann vermisste Zanoli aber die Berge zu sehr. Und das Dorfleben – trotz allem. «In der Stadt war es mir zu stressig.» Ihre Nachbarn kannte sie nicht. «Hier kann ich mit dem Velo fünf Minuten zur Piazza fahren und auf dem Weg grüssen mich zehn Leute.»

Zusammenhalt im Dorf

Zanoli hat eine weitere Erklärung dafür, weshalb die Menschen gerne in Poschiavo leben und hierher zurückkehren: Anders als in anderen Tälern würden die Menschen hier nicht erst am Abend nach Hause kommen, um zu essen und zu schlafen. «Wir leben und arbeiten hier. Und wir versuchen alle, dem Dorf und der Gemeinschaft etwas zu geben.»

Da ist etwa Hansjörg. Weil es in Poschiavo kein Kino gibt, zeigt er im Sommer in seinem Garten Filme für alle. Oder die Zuckerbäcker-Ausstellung. Ein Jahr lang wird sie im Ortsmuseum zu sehen sein. Rundherum gab es Lesungen, Vorträge, Führungen. Im Al Crott wurde mit einem Konditoreikurs, Theater und Musik gefeiert. 

Ein ganzes Dorf spannt zusammen, um seine Geschichte zu erzählen. Eine, die geprägt ist von denen, die gegangen und wieder zurückgekehrt sind. Hierher, bis hinter den Berninapass. Dieses Tal ist abgeschieden. Aber verloren ist es nicht.

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