«Ich sage lieber nichts»
Die Schwierigkeit, über den Nahost-Konflikt zu sprechen

Über den Konflikt in Israel und im Gaza-Streifen zu sprechen, bereitet uns Mühe. Denn die Angst davor, falsch verstanden zu werden, ist gross. Wie damit umgehen?
Publiziert: 04.11.2023 um 00:39 Uhr
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Aktualisiert: 04.11.2023 um 10:48 Uhr
Pascal Scheiber, Sandro Zulian und Nataša Mitrović

«Ich sage lieber nichts, bevor meine Aussagen als islamfeindlich oder antijüdisch ausgelegt werden», sagt Tilla, eine 21-jährige Studentin aus Basel. Die Tragik, Komplexität und die Emotionen auf beiden Seiten führten schnell zu einer hitzigen Diskussion und machten eine konstruktive Auseinandersetzung schwierig. Gemeinsam mit Hunderten anderen steht sie an diesem Donnerstagabend auf dem Zürcher Bürkliplatz, um für Frieden zu demonstrieren.

Es geht um einen Waffenstillstand. Es geht um die humanitäre Situation im Nahen Osten. Verurteilt werden Gewalt und Verbrechen – beider Seiten – scharf. Antijüdisches und islamfeindliches Verhalten hat an dieser Demo keinen Platz. Individuelle Plakate oder Flyer sind an der Kundgebung verboten. Die Organisatoren wollen nur Kerzen und Friedensflaggen. Wer dagegen verstösst, wird weggeschickt.

Palästinenser und Juden gemeinsam

Die Organisation hat zwei Reden zum Nahost-Konflikt organisiert – eine aus palästinensischer und eine aus jüdischer Perspektive. Frauen, Männer, Jung und Alt. Menschen unabhängig von ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit sind hier. Menschlichkeit steht bei diesen Demo-Teilnehmenden im Vordergrund. Eines treibt sie um: die eigene Ohnmacht im Nahost-Krieg. Die Wut und Entrüstung gegenüber allen Verbrechen treibt sie an. Sie sind hier, weil sie alleine die Verzweiflung nicht aushalten.

Am Donnerstagabend trafen sich mehrere Hundert Demonstrierende auf dem Bürkliplatz in Zürich. Verschiedene Nicht-Regierungs-Organisationen riefen zur Friedenskundgebung auf.
Foto: Zulian Sandro (zus)
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Kompliziert und emotional ist der Konflikt auch für den israelischen Staatsbürger Eran Ventura (31). «Ich persönlich verspüre auch Hass. Aber eigentlich bin ich vor allem aufgewühlt.»

Die Menschen äussern sich mit Bedacht – oder versuchen es zumindest. Sie sind nachdenklich und ringen immer wieder um Worte. Dass der Nahost-Konflikt schwer wirkt, ist an dieser Kundgebung spürbar. Die Angst ist gross, etwas Falsches zu sagen, dass Aussagen antijüdisch oder islamfeindlich wirken können.

Einordnung ohne «Aber»

Soll man die israelisch-palästinensische Situation zum besseren Verständnis in Kontext setzen? Das scheint für viele ein rotes Tuch zu sein. Etwas, das man vermeiden soll. Dem widerspricht der Kulturwissenschaftler und Philosoph Demian Berger (37). Er hielt an der Uni Luzern Lehrveranstaltungen unter anderem zum Thema Wokeness und über den Holocaust: «Kontext ist ein wichtiges Instrument, um eine Situation politisch und rational anzugehen.» Eine realistische, ganzheitliche und nüchterne Betrachtung einer Situation gehe nicht ohne Kontext. Berger: «Kontext wird nur dann zum Problem, wenn er als Legitimation oder Rechtfertigung von Verbrechen herangezogen wird.»

Der israelisch-deutsche Philosoph Omri Boehm (44) beschäftigt sich schon seit Jahren mit dem Konflikt im Nahen Osten. Der in Haifa geborene Boehm schrieb viel beachtete Bücher über die Zukunft Israels. Schock, Wut und Abscheu sind die ersten Reaktionen, wenn Undenkbares passiert. Trotz dieser starken Emotionen sei eines essenziell, sagte Boehm diese Woche in der SRF-Sendung «Sternstunde Philosophie»: Die menschenverachtenden und barbarischen Angriffe der Hamas auf die israelische Bevölkerung seien auf ganzer Linie zu verurteilen. Ohne Wenn und Aber.

Jedoch kämen viele Statements zum Nahost-Konflikt von westlichen Intellektuellen nicht ohne das «Aber» aus. Auf diese vier Buchstaben folgt eine Einordnung des Konflikts. Einen Konflikt in einen Kontext setzen, sei wichtig, hält auch der Philosoph fest. Verwerflich und wenig hilfreich sei es aber, wenn Kontextualisierung in Rechtfertigungen oder gar Schuldzuweisungen mündet.

Gehemmt, mit Freunden über den Konflikt zu sprechen, ist auch Demo-Teilnehmerin Jil Schaffner (32). Und trotzdem: «Ich glaube, wir kommen nur weiter, wenn wir miteinander sprechen.» Die junge Frau hat Wurzeln im Nahen Osten. Der Konflikt beschäftigt sie emotional sehr. Einen Schritt zurückmachen und innehalten, meint sie, sei in aufgeladenen Diskussionen sinnvoll. Während sie spricht, versucht sie, ihre Friedenskerze vor dem Wind zu schützen.

Kategorien spalten die Gesellschaft

Einen Schritt zurück und sich auf die Gemeinsamkeit aller Betroffenen dieses Konflikts besinnen – fern von Ethnie, Religionszugehörigkeit und politischer Ideologie. Schält man diese Schichten weg, kommt man an den menschlichen Kern, an das, was den Menschen ausmacht. Für Omri Boehm und Demian Berger ist dieser Kern das Fundament der Empörung. Berger als Kulturwissenschaftler nennt es «Empathie» – also die Fähigkeit, mit Menschen ausserhalb der eigenen Zugehörigkeitsgruppe mitzufühlen. Boehm als Philosoph spricht von Menschenwürde – sie ist unantastbar und zu schützen.

Auch Timrah Schmutz (32) ist gegen die Gut-und-Böse-Darstellung. Sie findet sie «besorgniserregend», erklärt sie auf dem Bürkliplatz. Seit dem Kriegsausbruch beobachtet die junge Jüdin eine starke Kategorisierung in Pro-Palästina oder Pro-Israel und mehr Hass gegen beide. Zielführend sei das nicht, meint Schmutz: «Wir sollten das Leiden von allen Menschen in der Region ins Zentrum stellen.» Sie stört sich, dass es zu wenige jüdische Stimmen gibt, die sich für eine gemeinsame Zukunft von Palästinensern und Israelis einsetzen.

Zu einer Schubladisierung des Gegenübers trägt auch bei, dass solche Kundgebungen – mit unterschiedlicher Ausrichtung – oft gleichzeitig stattfinden. Menschen, die ein Bedürfnis haben, gegen die Verbrechen zu demonstrieren, stehen vor der Qual der Wahl. Vorwürfe, warum man dort und nicht da sei, sind kontraproduktiv. Aber sie werden formuliert. Darin sieht Kulturwissenschaftler Berger die Ursache der Verrohung in der Auseinandersetzung mit diesem Konflikt. Die Schubladisierung ist also das Problem, nicht die Kontextualisierung.

Viele verurteilen schliesslich auch das Vorgehen des israelischen Verteidigungsministers Yoav Gallant (64), der in Gaza Wasser, Strom, Gas und Essen abstellt. «Mit der Einordnung kommt die Erkenntnis, dass die Zivilbevölkerung auf beiden Seiten die Leidtragenden eines solchen Konflikts sind», sagt Berger. Anteilnahme und Empathie mit den Opfern auf beiden Seiten also. Fernab von jeglichen Rechtfertigungen von menschenverachtenden Handlungen.

In der Zwischenzeit sind viele der Kerzen auf dem Bürkliplatz vom Winde erloschen. Die Reden sind zu Ende. Aus den Lautsprechern tönt es: «Imagine all the people, livin’ life in peace».

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