Geht dir das zu nah?
Achtung, das hier könnte dich triggern

Triggerwarnungen tauchen an immer mehr Orten auf. Neuerdings fragen sogar Unternehmen, ob gewisse Werbebotschaften genehm seien. Warum das?
Publiziert: 21.05.2023 um 17:51 Uhr
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Karen SchärerTeamlead Gesellschaft

Wer erinnert sich an die Werbeanzeigen von Benetton in den 1990er-Jahren? Die italienische Modemarke setzte damals auf Provokation. Mal zeigte sie einen sterbenden Aids-Patienten, mal blutgetränkte Kleidung mit Schussloch eines gefallenen Soldaten, ein Neugeborenes an der Nabelschnur oder einen schwarzen Hengst, der eine weisse Stute besteigt. Ziel war maximale Aufmerksamkeit durch Schockeffekt.

Ob die Bilder jemanden in seinen Empfindungen verletzen würden, ob jemand dadurch sogar – wie man heute sagt – getriggert würde, das war Benetton egal. Heute hingegen möchten Unternehmen mit ihren Werbebotschaften möglichst niemandem mehr unangenehme Gefühle bereiten. Mehr noch: Sie setzen auf maximale Empathie im Umgang mit ihrer Kundschaft.

Trigger: Muttertag?

Immer mehr namhafte Marken – darunter das Textilunternehmen Levi’s, die E-Commerce-Webseite Etsy oder Kroger, die grösste Lebensmittel-Supermarktkette der USA – fragen Kundinnen und Kunden, ob sie bestimmte Werbebotschaften empfangen wollen.

Stroboskope können epileptische Anfälle auslösen. Warnungen davor sind breit akzeptiert.
Foto: Getty Images
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Wie das funktioniert, zeigt sich in der Kommunikation rund um den Muttertag. Levi’s schrieb: «Wir wissen, dass die Mutterschaft und all die damit verbundenen Gefühle, Emotionen und Erinnerungen schwierig sein können – und bei manchen Menschen sogar triggernd wirken. Das Letzte, was wir wollen, ist, dich mit jubelnder ‹Yay Mom›-Energie zu überschütten, die nicht zu deiner Stimmung passt.» Mit einem Klick konnten Kundinnen die Muttertags-Mailings abwählen.

Heute möchten viele in unserer Gesellschaft umsichtig umgehen mit anderen. Dazu gehört, darauf Rücksicht zu nehmen, dass Menschen unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben und deshalb auch unterschiedlich reagieren. Ein Bild, Video oder Inhalt, der die eine Person erfreut oder kaltlässt, kann die andere Person verstören oder belasten. Zu einem empathischen Umgang gehört deshalb in den Augen vieler eine Triggerwarnung, abgekürzt als TW oder CN (Content Notice), vor Inhalten, die potenzielle Trigger sind.

In die traumatische Situation zurückversetzt

In der Psychologie beschreibt der Begriff Trigger Auslöser für Erinnerungen an traumatische Erlebnisse. Eine betroffene Person fühlt sich durch Trigger wie Bilder, Orte, Geräusche oder Gerüche in eine erlebte, belastende Situation zurückversetzt und fühlt sich in dem Moment, als passiere die Situation gerade.

Triggerwarnungen werden typischerweise vor Inhalten platziert, in denen es um Themen wie Rassismus, Gewalt, Missbrauch, Essstörungen, Depressionen, Sucht oder Tod geht. Dank dem Hinweis sind Betroffene gewappnet, oder sie können wegklicken.

Immer mehr Triggerwarnungen

Verbreitet sind Triggerwarnungen in den sozialen Medien, wo Nutzerinnen und Nutzer eigene Inhalte mit Warnhinweisen versehen. Instagram ermöglicht es in den «Einstellungen für sensible Inhalte», weniger Posts zu Themen wie Drogen oder Gewalt anzeigen zu lassen. Auf Tiktok warnt ein Icon – ein durchgestrichenes Auge – vor sensiblen Inhalten.

Triggerwarnungen tauchen zunehmend in immer mehr Bereichen des Lebens auf:

  • Beim Shoppen, wie eingangs erwähnte Beispiele zeigen.
  • In der Kunst, wenn die Besucherin zum Beispiel in der Kunsthalle Friart Fribourg durch die Kassierin warnend auf die schonungslose Auseinandersetzung mit dem Thema Elternschaft durch den queeren Künstler Ei Arakawa hingewiesen wird.
  • Im Theater, wo Triggerwarnungen in Programmbeschrieben auftauchen. Ein Beispiel: Das Schauspielhaus Zürich veröffentlichte 2022 eine Triggerwarnung zu Milo Raus Inszenierung von «Wilhelm Tell» – diese enthalte «Schilderungen und Darstellungen von Gewalt, sexualisierter Gewalt, Racial Profiling und Waffen», stand da. Zudem würden Stroboskope eingesetzt.
  • Im Film und auf Streamingplattformen, wo sich das Publikum längst an Inhaltswarnungen zu Gewalt oder Sex gewöhnt hat.
  • In den Medien: SRF stuft Suizid, Magersucht, Drogensucht und sexuellen Missbrauch als mögliche Triggerthemen ein und warnt das Publikum vor schockierenden Aufnahmen – auch in der Musik: In der auf Youtube abrufbaren Sendung «Bounce» wird vor Rap-Freestyles jeweils eine Triggerwarnung ausgesprochen.
  • Und auch in der Literatur, wo Warnungen bei Neuerscheinungen im deutschsprachigen Raum vermehrt zu sehen sind. Haymon war einer der ersten Verlage, der Triggerwarnungen druckte. Beim Roman «Liebe/Liebe» von 2021 lauten die warnenden Zeilen: «Marlen Pelnys Roman konfrontiert dich mit sexueller Gewalt, Kindsmissbrauch und Selbstverletzung.» Der Verlag sieht Triggerwarnungen als Entscheidungshilfe für Lesende und als Zeichen der Empathie gegenüber Kundinnen und Kunden.

Rufe nach Warnungen vor verstörenden Inhalten kamen zuerst an US-amerikanischen Universitäten in den 2010er-Jahren auf. Sie hingen mit dem damals wachsenden Bewusstsein für sexuelle Gewalt (auch auf dem Hochschulcampus) und deren Folgen zusammen.

Kritik an Triggerwarnungen

Von Beginn weg gab es neben Verständnis für die studentischen Anliegen auch Kritik daran. Manche wehren sich im Namen der Kunst gegen Triggerwarnungen.

So sagte die deutsche Philosophin Maria-Sibylla Lotter (61) vergangenes Jahr gegenüber Deutschlandfunk Kultur: «Wenn man das Vorkommen von Gewalt in der Kunst jetzt quasi mit einer Gewalterfahrung gleichsetzt, dann reduziert man das, was Kunst leisten kann, quasi auf das Leben. Und dann hat es nicht mehr mit Kunst zu tun.» Zudem beeinflusse eine Triggerwarnung die Wahrnehmung eines Werks zu stark, andere Aspekte würden kaum mehr wahrgenommen.

Andere wittern Zensur, sehen in Triggerwarnungen einen Auswuchs linker Identitätspolitik und bezeichnen sie als lächerliche Political Correctness. In einer Kolumne machte sich der ehemalige Chefredaktor der «NZZ am Sonntag», Felix E. Müller (72), letzten Sommer über Triggerwarnungen im Journalismus lustig und schloss mit den Worten: «Aber vielleicht benötigt die Triggerwarnung selbst eine Triggerwarnung: Solche Hinweise schaden dem Selbstdenken.»

Kritische Stimmen gibt es auch in der Psychologie. «Was ein Trigger ist, muss die betroffene Person selbst entscheiden. Wir sollten nicht von aussen versuchen, den Trigger zu kontrollieren, sondern müssen die Person in die Lage versetzen, dass sie das selbst kontrollieren kann», sagte Psychologe Thomas Weber (56) vom Zentrum für Trauma- und Konfliktmanagement in Köln (D) kürzlich in einem Interview mit «taz.de».

Zwei Studien der Harvard University (2018 und 2019) bestärken Kritikerinnen und Kritiker: Die Untersuchungen zeigen, dass Triggerwarnungen die Angst vor als schädlich empfundenem schriftlichem Material erhöhen können, dass sie also selbst Angst auslösen. Das ist das Gegenteil dessen, wozu sie eingesetzt werden.

120 Kategorien für Trigger in Filmen

Selbst wer für Triggerwarnungen ist, stört sich vielleicht am inflationären Gebrauch und stellt sich die Frage nach der Grenze bei solchen Hinweisen. Die Problematik zeigt sich exemplarisch auf der Webseite und App «Does the Dog Die?». Hier lassen sich Filme und Serien nach mehr als 120 Kategorien von psychischen Gefahren filtern. Gefüttert wird die Datenbank laufend durch die Nutzerinnen und Nutzer.

Ein Beispiel: Die preisgekrönte satirische Tragikomödie «Triangle of Sadness» aus dem Jahr 2022 bekommt auf «Does the Dog Die?» ganze 34 Triggerwarnungen: Ein Tier stirbt. Ein Tier wird gequält. Es kommen Schlangen vor. Käfer kommen vor. Alkoholmissbrauch. Jemand fällt die Treppe hinunter. Jemand erbricht sich. Es kommen Babys vor. Und 26 Warnungen mehr.

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