Ein Begriff für alle Fälle
Nun hat auch die SVP Nachhaltigkeit entdeckt

Vom Gemüse über Möbel bis zu Versicherungen: über die 310-jährige Erfolgsgeschichte eines Begriffs aus der Forstwirtschaft.
Publiziert: 09.07.2023 um 15:25 Uhr
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Aktualisiert: 12.07.2023 um 08:17 Uhr
Die Bernischen Kraftwerke werben mit Skirennfahrerin Lara Gut für «mehr Nachhaltigkeit».
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Die Schweizerische Volkspartei (SVP) konzentriert sich: Man könne nicht alle Themen bedienen, hiess es vergangenes Wochenende an der Delegiertenversammlung in Küssnacht am Rigi SZ – deshalb setzt die SVP im Hinblick auf die nationalen Wahlen von kommendem Herbst ganz auf ihr Lieblingsthema Migration. Und lanciert dazu gleich noch die «Nachhaltigkeits-Initiative»: Damit soll bis 2050 die Wohnbevölkerung in der Schweiz die 10-Millionen-Grenze nicht überschreiten dürfen.

Moment mal, hier verzettelt sich die Partei! Denn Nachhaltigkeit ist der Kernbegriff des Umweltschutzes – bekanntlich nicht das Hauptanliegen der SVP. Doch Initiant und SVP-Nationalrat Thomas Matter (57) liess den fremden Begriff unbekümmert in seine Rede am Sonderparteitag in Küssnacht einwandern, als er sagte: «Eine nachhaltige Bevölkerungsentwicklung ist absolut nötig zum Schutz unserer Umwelt.»

Michelle Hunziker bewirbt nachhaltiges Reisen

So hässlich das Wort mit dem «ig» und der «keit»-Endung klingt, so betörend ist seine Ausstrahlung. Nachhaltigkeit ist wie das schrill schreiende Baby in einem Restaurant, das trotzdem alle süss finden. Nachhaltigkeit ist die positive Schwester des negativen Bruders Vorbehalt – zukunftsweisend statt verhindernd. Nachhaltigkeit ist beliebt, es ist nachgerade ein Modewort.

Vom Gemüse über Möbel bis zu Versicherungen – jedes Produkt und jede Dienstleistung versucht, mit diesem Label zu gefallen und eine grössere Kundschaft zu erreichen. Selbst das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) bewirbt seit Juni seine österreichische Botschaft mit dem Titel «NaCHhaltigkeit unter einem DaCH» – und zeigt ein grünes Schweizer Sackmesser, aus dem Wölkchen, Windräder und eine Pusteblume ausgeklappt sind.

Diesen Sommer lancierte Schweiz Tourismus zusammen mit Aushängeschild Michelle Hunziker (46) zudem eine Nachhaltigkeitskampagne. Weil diese Branche internationale Gäste ansprechen will, wirbt sie mit dem englischen Begriff Sustainability für nachhaltiges Reisen durch die Schweiz und vermengt alles zum Wortspiel «Swisstainable»: Gemeinsam mit den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) will man Lust darauf machen, das Land mit dem öffentlichen Verkehr zu entdecken.

«Nachhaltigkeit» über 50 Prozent häufiger seit 2020

Ist das alles nur ein Werbehype? Auf jeden Fall ist es ein Medienrummel, der schon lange andauert: Im digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) zeigt die Verlaufskurve zum Gebrauch des Begriffs Nachhaltigkeit in Zeitungen seit 1946 stetig nach oben. Seit den 1990ern steigt die Kurve gar exponentiell und erreicht 2022 einen vorläufigen Höhepunkt: Weist das DWDS für 2020 schon 14’871 Fundstellen aus, sind es im Folgejahr 19’099 und letztes Jahr 22’385 – eine satte Zunahme von 50,5 Prozent von 2020 bis 2022!

Die ansteigende Linie verläuft auffällig parallel zur häufigeren Nennung des Klimawandels in den Medien. Sobald das Problem Erderwärmung benannt ist, fällt das Wort Nachhaltigkeit als Allheilmittel. Denn mit ihm verbinden alle sogleich Begriffe wie Umweltschutz, Energieeffizienz, Ressourcenschonung oder Generationengerechtigkeit – eine Wortwolke, die seit der ersten Klimakonferenz der Vereinten Nationen 1995 in Berlin über unseren Köpfen hängt.

Ein rareres, früheres Beispiel ist in der «NZZ» vom 16. August 1965 nachzulesen. Dort schrieb «Dr. E. Krebs, Oberforstmeister» unter dem Titel «Wald und Luft»: «Die Grundsätze der Nachhaltigkeit gelten für alle Grundlagen unseres Lebens, wie Boden, Wasser, Luft und Licht. Wir wissen heute, dass diese Naturgüter keineswegs unerschöpflich sind und dass wir daher nicht das Recht haben, hemmungslos über sie zu verfügen.» Bald 60-jährige Sätze, die topaktuell tönen.

Von Carlowitz gilt als Schöpfer des Begriffs Nachhaltigkeit

Es scheint kein Zufall zu sein, dass ein Oberforstmeister diesen Artikel verfasst hat, denn bereits die allererste Erwähnung des Begriffs Nachhaltigkeit in deutscher Sprache ist in einem Buch über die Forstwirtschaft zu finden: «Sylvicultura oeconomica, oder hausswirthliche Nachricht und Naturmässige Anweisung zur Wilden Baum-Zucht» aus dem Jahr 1713. Autor ist der sächsische Adlige Johann «Hannss» Carl von Carlowitz (1645–1714) – dessen Vater kursächsischer Oberforstmeister war.

Von Carlowitz kritisiert darin den auf kurzfristigen Gewinn ausgelegten Raubbau an Wäldern und fordert einen respektvollen Umgang mit der Natur: «Wird derhalben die gröste Kunst / Wissenschafft / Fleiss / und Einrichtung hiesiger Lande darinnen beruhren / wie eine sothane Conservation und Anbau des Holtzes anzustellen / dass es eine continuirliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe.» Obwohl «nachhaltend» nur einmal im über 400-seitigen Buch vorkommt, gilt von Carlowitz als Schöpfer des Begriffs Nachhaltigkeit.

Was bedeutet das Wort eigentlich? Gemäss dem «Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm» meint das zugrunde liegende Adjektiv und Adverb «nachhaltig» «auf längere Zeit anhaltend und wirkend». Wie lange diese Zeit ist, lässt ein Lexikoneintrag im «Kleinen deutsch-lateinischen Handwörterbuch» (1910) erahnen: Dort ist «Nachhaltigkeit» vom Lateinischen «perpetuitas» (ununterbrochene Fortdauer) hergeleitet. Das passt: Das Wort ist ein wahres Perpetuum mobile – 310 Jahre Nachhaltigkeit und kein Ende.

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