«Jeder hatte Angst vor Kurt Furgler»
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Muschg über Alt-Bundesrat:«Jeder hatte Angst vor Kurt Furgler»

Adolf Muschg zu 175 Jahren Bundesverfassung
«Die Schweiz war nie europäischer als nach 1848»

Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg (88) über das Jubiläum der Bundesverfassung, seinen Satz in der aktuellen Version und den französischen Fluch.
Publiziert: 08.04.2023 um 12:53 Uhr
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Aktualisiert: 08.04.2023 um 12:54 Uhr
Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft feiert 2023 ihr 175-Jahr-Jubiläum.
Foto: Keystone
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Blick: Herr Muschg, heute vor 175 Jahren lag die erste Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vor. Ein Grund zur Feier?
Adolf Muschg:
Ja, und auch eine Erinnerung daran, dass diese Verfassung 1848 eine Lösung in einer sehr kritischen Situation der Schweiz war. Kurz zuvor hatte der Sonderbundskrieg das Land gespalten. Und die Frage war nun, wie man den Zusammenhalt tragfähig begründete.

Adolf Muschg

Am rechten Zürichsee-Ufer, der sogenannten Goldküste, zur Welt gekommen und immer noch dort in dritter Ehe lebend, vertrat der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg meist linke Positionen. 1969 trat er mit Frisch und Dürrenmatt aus dem Schweizerischen Schriftstellerverein aus, weil dessen Präsident alle Linksintellektuellen als Landesverräter abstempelte. Ganz im Gegenteil stellte sich Muschg immer wieder in den Dienst des Landes, liess sich 1975 als Ständeratskandidat der SP Zürich aufstellen und arbeitete 1977 am Entwurf für eine Totalrevision der Bundesverfassung mit. Seit 2014 ist er Ehrenbürger seiner Wohnortsgemeinde Männedorf ZH.

Philippe Rossier

Am rechten Zürichsee-Ufer, der sogenannten Goldküste, zur Welt gekommen und immer noch dort in dritter Ehe lebend, vertrat der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg meist linke Positionen. 1969 trat er mit Frisch und Dürrenmatt aus dem Schweizerischen Schriftstellerverein aus, weil dessen Präsident alle Linksintellektuellen als Landesverräter abstempelte. Ganz im Gegenteil stellte sich Muschg immer wieder in den Dienst des Landes, liess sich 1975 als Ständeratskandidat der SP Zürich aufstellen und arbeitete 1977 am Entwurf für eine Totalrevision der Bundesverfassung mit. Seit 2014 ist er Ehrenbürger seiner Wohnortsgemeinde Männedorf ZH.

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Und wie machten das unsere Vorfahren?
Der Staatsstreich im positiven Sinn war, dass man es verstand, die Verlierer – vornehmlich die katholische Innerschweiz – zu integrieren. Das gelang, indem die Verfassung die Eigenständigkeit der Kantone festhält, namentlich durch die Schaffung einer zweiten Kammer nach amerikanischem Vorbild, des Ständerats.

Die Kommission unter Ulrich Ochsenbein schuf den Text in 31 Sitzungen an nur 51 Tagen. Ein Kraftakt?
Absolut. Das erinnert an die griechische Polis: Die Menschen waren in erster Linie Bürger des Landes und erst in zweiter Linie Berufsleute. Natürlich waren die damaligen Freisinnigen wirtschaftsfreundlich, aber die Triebkraft war, dem Staat das Beste zu geben.

Wie konnte das der Schweiz gelingen?
Durch Glück, Mut und Unternehmungsgeist. Der siegreiche Liberalismus entfesselte eigene Kräfte. Er war das Produkt einer Elite, aber für einmal war die Schweiz ihrer Zeit voraus.

Wie zeigte sich das?
Nach 1848 profitierte die Schweiz enorm als Asylland der Flüchtlinge aus dem übrigen Europa, wo die bürgerliche Revolution gescheitert war. Sie waren Entwicklungshelfer in allen Gebieten wie dem Rechts- und Militärwesen, der Wirtschaft, aber auch den Schulen.

Den Schulen?
Ohne ihren Beitrag wäre das neu gegründete Polytechnikum – die heutige ETH – nicht zu einer wegweisenden Institution geworden. Auch in Kunst und Kultur erlebte die junge Republik einen Quantensprung – durch Wagner, Semper, Kinkel, Herwegh, den Freunden des Rückkehrers Gottfried Keller. Die Schweiz war nie europäischer als nach 1848.

Von 1973 bis 1977 haben Sie an der Totalrevision der Bundesverfassung mitgearbeitet. Wie kam es dazu?
Das war die Idee des damaligen Bundesrats Kurt Furgler. Ein Justizminister kann sich selber und seiner Arbeit kein nobleres Denkmal setzen als eine Revision der Bundesverfassung.

Wie war Ihre Kommission zusammengesetzt?
Wir waren zwischen 30 und 40 Personen – der harte Kern davon Professoren des Staatsrechts. Für mich als Laie war es ein demokratiepolitisches Oberseminar erster Güte. Ich bin mit einigen Teilnehmern lebenslang befreundet gewesen.

Der Satz in der Präambel der aktuellen Verfassung «dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen» stammt aus Ihrer Feder. Sind Sie stolz darauf?
Jedenfalls überrascht, denn der 1977 vorgelegte Entwurf fand bei den politischen Praktikern keine Gegenliebe und blieb schon in der Vernehmlassung auf der Strecke. Die Totalrevision hatte erst dank Bundesrat Arnold Kollers unverfänglicher Überschrift «Nachführung» eine Chance.

Und erst die Volksabstimmung von 1999 verankerte Ihren Satz.
Sagen wir so: Er überlebte dank einer eher pragmatischen Verpackung.

Der Satz soll Ihnen in Disentis bei hohem Fieber eingefallen sein. Stimmt das?
Ja, im Hotel Cucagna, wohin ich mit einer Grippe zur Kommissionssitzung gereist war. Das Hotel gibt es nicht mehr, aber der Satz ist geblieben.

Haben Sie noch an anderen Formulierungen mitgearbeitet?
Natürlich beschäftigte mich die kulturelle Verpflichtung des Staates.

Müsste die Verfassung nicht poetischer sein, sodass man sie gerne zitiert?
Andere Völker hatten das Glück, unter ihren Staatsmännern begnadete Sprachmeister zu haben – die USA etwa mit Thomas Jefferson, der in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 schrieb: «We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal.»

Da nimmt sich unsere Verfassung wie Juristendeutsch aus.
Der Ausweg, wenigstens juristisch stichhaltig und kohärent zu sein, ist immer eine Notlösung, der man ohne Begeisterung begegnet – bestenfalls ein Kunstwerk erträglicher Kompromisse. Darum ist das Kernstück jeder Verfassung ihre Revidierbarkeit.

In welche Richtung müsste eine Revision heute gehen?
Die Verfassung müsste von der Realität ausgehen: Eine Gesellschaft, die jederlei Art von Profit und Wachstum als Fortschritt definiert, muss wissen, dass sie damit ihre Lebensgrundlagen zerstört. «Viel Glück!», kann man dazu heute nur noch sagen.

Der allererste Satz der Präambel: «Im Namen Gottes des Allmächtigen!» stand schon in der Urfassung von 1848 und hat alle Revisionen überstanden. Zu Recht?
Das hielt ich damals für die reine Gotteslästerung. Was bilden wir uns ein, den Gottesnamen für unser Menschenwerk in Anspruch zu nehmen! Diesen Mut hatte nur noch das katholische Irland – und Francos Spanien … Der Versuch, wenigstens ohne «den Allmächtigen» auszukommen, führte dann auf Französisch zu einer ganz eigenen Pointe.

«Nom de dieu» …
… ist ein Fluch! Inzwischen habe ich eingesehen, dass der «Allmächtige» immerhin die Kraft hat, jeden andern Glauben einzuschliessen.

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