Das Appenzell erinnert sich an 1990
«Das Nein zum Frauenstimmrecht war eine Trotzreaktion»

Erst 1990 wurde in Appenzell Innerrhoden das Frauenstimmrecht per Bundesgerichtsentscheid eingeführt. Maria Eugster-Breitenmoser und Roland Inauen erinnern sich an die damalige Atmosphäre im Kanton – und sagen, was sich seither verändert hat.
Publiziert: 31.10.2022 um 07:34 Uhr
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Aktualisiert: 03.11.2022 um 06:39 Uhr
Adrian Meyer

Maria Eugster-Breitenmoser

Maria Eugster-Breitenmoser, 65, ehemalige Präsidentin des Frauenforums Appenzell.
Foto: Mina Monsef

Frau Eugster, Sie kämpften mit einem Aktionskomitee für das Frauenstimmrecht. Wie erinnern Sie sich an die Zeit zurück?
Maria Eugster-Breitenmoser: Es ist mehr als 30 Jahre her. Aber ich kann mich gut an meine Ohnmacht erinnern. Wir wussten nicht, wie wir weiter vorgehen sollten, als das Frauenstimmrecht an der Landsgemeinde erneut abgelehnt worden war. Ich war enttäuscht. Zehn Jahre lebte ich in anderen Kantonen und war an das Stimmrecht gewöhnt, das wollte ich als politisch aktiver Mensch auch in meiner Heimat ausüben. Nachdem Theresia Rohner beim Bundesgericht Beschwerde eingelegt hatte, zogen 50 Männer und 50 Frauen aus Appenzell mit einer Sammelbeschwerde nach. Wir wollten nicht länger warten. Anschliessend gründeten Sie das Frauenforum Appenzell mit.

Ging der Kampf da erst richtig los?
Nach dem Bundesgerichtsentscheid wollten wir schnell beweisen, dass Frauen sich aktiv in die Politik einbringen. Viele dachten, dass mit dem Stimmrecht alle Ziele der Frauen erreicht seien. Wir wollten aber keinen Stillstand. Daher haben wir Frauen für Ämter vorgeschlagen. Unser erster Erfolg war, dass an der nächsten Landsgemeinde ein Drittel der Teilnehmenden Frauen waren! Unsere grösste Errungenschaft ist die Wahl von Ruth Metzler als erster Frau in der Appenzeller Regierung.

Mit welchen Widerständen hatten Sie zu kämpfen?
Mit den gleichen wie heute. Es ist immer noch schwer, Frauen in politische Ämter zu bringen, in Partei- oder Verbandsvorstände. Das bereitet mir Sorgen. Das Frauenforum ist aufgelöst worden, aber eigentlich bräuchte es die Organisation noch immer. Ich wünschte mir, dass sich die jungen Frauen von heute zusammentun und sich fragen, wofür es sich heute zu kämpfen lohnt.

Wie blicken Appenzeller:innen auf diese Episode zurück?
Es ist ein dunkles Kapitel, das nicht gut aufgearbeitet wurde und lieber verschwiegen wird. Das ist unangenehm. Aber es wäre wichtig, diese Episode aufzuarbeiten. Damit die Grosskinder wissen, was sich in unserem Kanton zugetragen hatte.

Wo steht Appenzell, die Schweiz, bei der Gleichstellung von Mann und Frau?
Seit Jahrzehnten arbeitet man für gleiche Löhne, bisher mit mässigem Erfolg. Was mich am meisten umtreibt, ist die Frage, wie man auch das Engagement der Männer innerhalb der Familie sichtbarer machen könnte. Damit es mehr männliche Vorbilder gibt, die sagen, sie seien ebenso gerne in der Familie tätig wie in ihrem Beruf. Damit steigt die Akzeptanz für neue Arbeitsmodelle.

EqualVoice

Als internationaler Medienkonzern setzt sich die Ringier-Gruppe mit ihrer publizistischen und technologischen Kraft seit 2019 für die Gleichwertigkeit von Frauen und Männern ein. Ringier will mit der EqualVoice-Initiative die Frauen in der Berichterstattung sichtbarer machen, denn heute handeln Medienartikel in der Schweiz zu 72 Prozent von Männern. Zudem soll die Initiative mehr weibliche Vorbilder schaffen. Um das zu erreichen, misst Ringier den Frauen- und Männeranteil in den Onlineberichten mit einem von der ETH verifizierten Algorithmus und veranstaltet Events.

Als internationaler Medienkonzern setzt sich die Ringier-Gruppe mit ihrer publizistischen und technologischen Kraft seit 2019 für die Gleichwertigkeit von Frauen und Männern ein. Ringier will mit der EqualVoice-Initiative die Frauen in der Berichterstattung sichtbarer machen, denn heute handeln Medienartikel in der Schweiz zu 72 Prozent von Männern. Zudem soll die Initiative mehr weibliche Vorbilder schaffen. Um das zu erreichen, misst Ringier den Frauen- und Männeranteil in den Onlineberichten mit einem von der ETH verifizierten Algorithmus und veranstaltet Events.

Roland Inauen

Roland Inauen, 67, damals Stimmbürger, heute Stillstehender Landammann von Appenzell Innerrhoden und Vorsteher des Erziehungsdepartements.
Foto: KEYSTONE

Herr Inauen, in einem Video von der Landsgemeinde im Jahr 1990 sieht man, wie Sie nach dem Nein zum Frauenstimmrecht die Hände verwerfen. Was ging Ihnen durch den Kopf?
Eine Mischung aus Verzweiflung, Ratlosigkeit und Wut. Ich wusste nicht, wie es weitergehen soll mit den Frauenrechten im Kanton. Nach mehreren Versuchen scheiterte das Frauenstimmrecht erneut. Dabei ging ich fest davon aus, dass es endlich klappen würde. Sogar die Regierung und der Grosse Rat waren einstimmig dafür! Und dann haben wir es wieder nicht geschafft.

Warum waren so viele Appenzeller dagegen?
Es gibt viele plausible, durchaus historische Gründe dafür. Ich glaube aber, das Nein der Landsgemeinde war eine Trotzreaktion. Ganz Europa schaute damals wegen des fehlenden Frauenstimmrechts auf Innerrhoden. Einfachere Gemüter haben sich in dieser Exklusivität gesonnt und unheilige Allianzen geschmiedet mit jenen, die überzeugt gegen das Frauenstimmrecht waren. Hinzu kam eine ältere Generation, die Angst davor hatte, dass die Tradition ihrer Landsgemeinde kaputt geht.

Wie hat das Frauenstimmrecht den Kanton verändert?
Im Rückblick hat diese unsägliche Frage das politische Leben und das Vorwärtskommen des Kantons massiv blockiert. Als die Frage endlich vom Tisch war, war der Kopf frei für wichtige, strukturelle Fragen, die mit grossem Elan angepackt wurden – mit Unterstützung der Frauen. Nie hatte Innerrhoden eine intensivere Reformphase erlebt als in den 1990er-Jahren.

Wie blicken die Appenzeller:innen auf diese Episode zurück?
Ich habe fast 30 Jahre lang das Museum Appenzell geleitet und das Frauenstimmrecht auf Hunderten Führungen thematisiert. Auch in privaten Gesprächen wird das Thema durchaus kritisch reflektiert. Natürlich könnte man die Geschichte im Detail aufarbeiten für nachfolgende Generationen. Aber inzwischen ist einiges an Aufklärung betrieben worden, nicht zuletzt durch das Jubiläum des Frauenstimmrechts im vergangenen Jahr.

Wo steht Appenzell, die Schweiz, bei der Gleichstellung von Mann und Frau?
Da sind noch Defizite vorhanden. Verschiedene Kreise setzen sich im Kanton dafür ein. Noch immer bringen sich zu wenige Frauen aktiv in politische Ämter ein. Das ist wirklich schwierig. Vor allem in der Legislative und Exekutive muss das Geschlechterverhältnis besser werden. In weniger exponierten Ämtern, etwa im Gericht, ist die Situation besser. Gesamtschweizerisch sehe ich die fehlende Lohngleichheit als das grösste Problem. Das müssten wir als Erstes lösen. Der Weg dorthin ist allerdings steinig.

Dieser Artikel stammt aus dem Print-Magazin zur Ringier-Initiative EqualVoice.

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