Kindergärtner, Luftwaffenoffizierin, Maurerin und männliche Hebamme
Es ist einfach ein Job

Ein Kindergärtner, eine Luftwaffenoffizierin, eine männliche Hebamme und eine Maurerin erzählen, warum sie einen Beruf wählten, der traditionell nicht mit ihrem Geschlecht in Verbindung gebracht wird.
Publiziert: 14.09.2021 um 09:13 Uhr
Adrian Meyer

«Kindern ist es egal, ob ein Mann oder eine Frau vor ihnen steht»

Dominic Deville, Kindergärtner

Comedian Dominic Deville (46) war vor seiner Karriere als Moderator Punk und Kindergärtner. Obwohl er im Kindergärtnerinnen-Seminar der einzige Mann war, habe sein Geschlecht vor allem bei den Kindern nie eine Rolle gespielt.

Comedian Dominic Deville (46) war vor seiner Karriere als Moderator Punk und Kindergärtner. Obwohl er im Kindergärtnerinnen-Seminar der einzige Mann war, habe sein Geschlecht vor allem bei den Kindern nie eine Rolle gespielt.

Schauspieler oder Lehrer werden, das wollte Dominic Deville eigentlich. «Ich liebte es, verrückte Geschichten zu erfinden, sie zu erzählen und nachzuspielen. Und ich habe immer gerne mit jungen Menschen gearbeitet.» Sein Traum vom Pädagogen zerbrach im Lehrerseminar: Zu schlecht war er in den naturwissenschaftlichen Fächern. «Da stand ich wie ein Esel am Hang und ging verzweifelt zum Berufsberater.» Dieser riet ihm: Typograf oder Kindergärtner. Die Entscheidung fiel ihm nach einem ersten Chindsgi-Praktikum in Horw bei Luzern leicht.

Heute ist der 46-Jährige bekannt für seine Late-Night-Show «Deville» auf SRF. Als Kindergärtner arbeitete er erstmals von 1996 bis 2000. Dazwischen war er vor allem Punk: Als Schlagzeuger der Band Failed Teachers zündete er schon mal sein Instrument an, sprang von der Bühne und zertrümmerte sich dabei sein Knie. Drei Jahre lebte er Anfang der 2000er ein wildes Leben in Berlin, wo er sich durch Gelegenheitsjobs und die Nächte der Grossstadt hangelte. Zurück in Luzern, schrieb und spielte er Theaterstücke, gründete eine Eventagentur, moderierte, gab Punk-Konzerte, erfand Brettspiele und wurde zwischenzeitlich Vater.

Nach seinen turbulenten Jahren stieg er 2010 in Schlieren wieder in den Kindergärtner-Job ein: «Ich kam aus dem Chaos und brauchte Struktur.» Zum Kindergärtner ausbilden liess sich Deville am kantonalen Seminar für Kindergärtnerinnen in Luzern, so hiess die Schule damals. Er war der einzige Mann unter 300 Studentinnen, Männer-WCs gab es an der Schule keine. «Auf meinem Diplom steht ‹Kindergärtnerin›», sagt er, «das -in haben sie überklebt.»

Eine männliche Hebamme, eine Maurerin, eine Luftwaffenoffizierin und ein Kindergärtner.
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Trotzdem habe sein Geschlecht nie eine Rolle gespielt – weder bei ihm, bei den Mitstudentinnen noch bei den Kindern, die er unterrichtete. Den Kindern sei es egal, ob ein Mann oder eine Frau vor ihnen steht. «Viel wichtiger ist, obdu mit Freude, Motivation und Ausdauer deinen Job machst.» Daher hält er wenig davon, in pädagogischen Einrichtungen eine Quotenregelung einzuführen. «Obwohl ich eigentlich ein Anhänger von Quoten bin.»

Auffallend an Deville war ohnehin nicht, dass er ein Mann war. Es waren seine gebleichten Haare, die Springerstiefel, die Sex-Pistols-T-Shirts. Seine erste Stelle war an einem Kindergarten in Ballwil im Luzerner Seetal. Deville wollte Kindergarten anders machen, anarchischer, freier. «Nach wenigen Tagen merkte ich, das geht schief. Die Kinder machten mir die Hölle heiss.» Sehr schnell musste der Anarchist Regeln und Strukturen einführen. «Im Kindergarten habe ich gelernt, Verantwortung zu übernehmen, kompetent aufzutreten, zu orga­nisieren», sagt er.

Für seine spätere Bühnen- und TV-Karriere war die Zeit als Kindergärtner ein optimales Training: «Kinder sind das härteste Publikum», sagt Deville. «Wenn ihnen langweilig ist, stehen sie auf und gehen weg. Egal, wie viel Mühe du dir gibst.» Tatsächlich hallen seine Chindsgi-Erfahrungen bis heute nach: Ab 2012 ging er mit seinem Programm «Kinderschreck» auf Tournee. Vor drei Jahren erschien sein Buch «Pogo im Kindergarten», in welchem er die verrücktesten Geschichten aus der Zeit sammelte. Und noch immer träume er mindestens einmal im Monat vom Kindergarten: dass er verschlafen habe, sich nicht für den Elternabend vorbereitete oder ein Kind verloren ging. «Man hat mich zwar aus dem Kindergarten», sagt er, «aber den Kindergarten nicht aus mir gebracht.»

«Der Beruf macht mir Spass. Ganz einfach»

Nadja Büttiker, Maurerin

Nadja Büttiker (27) ist Weltmeisterin im Voltigieren – und gelernte Maurerin. Die einzige Frau auf der Baustelle zu sein, stört sie überhaupt nicht.

Nadja Büttiker (27) ist Weltmeisterin im Voltigieren – und gelernte Maurerin. Die einzige Frau auf der Baustelle zu sein, stört sie überhaupt nicht.

Bei ihrer privaten Leidenschaft ist Nadja Büttiker von Frauen umgeben: Die 27-Jährige gehört zur Weltspitze im Voltigieren. Mit ihrem Team wurde sie 2012 Weltmeisterin. Beruflich aber wirkt Büttiker in einer Männerdomäne: Sie ist Maurerin und täglich von früh bis spät auf Baustellen der Firma Oberhänsli Bau aus Mosnang im Kanton St. Gallen unterwegs.

Eigentlich ist Büttiker gelernte Gärtnerin. Mit der Zweitlehre zur Maurerin hat sie sich vor einigen Jahren einen Kindheitstraum erfüllt. «Ich fand den Job schon als Kleine cool», sagt sie, «ich bin gerne draussen und mag es, mit meinen Händen etwas zu schaffen.» Ihre Eltern hatten damals zwar Bedenken, dass der Knochenjob körperlich zu anstrengend sei. «Heute aber finden sie es super.»

Tatsächlich brauche sie wegen ihres Jobs im Voltigieren kein Krafttraining mehr. «Ich kann alles schleppen, was man mir gibt.» Die Kollegen hätten sie daher sogleich akzeptiert.

Trotz des Knochenjobs: Etwas mehr Feingefühl als ihre männlichen Kollegen bringe sie schon mit. Die hauten manchmal einfach so drauf, zum Beispiel beim Gerüstaufstellen. «Das ist nicht so mein Ding.» Den gröberen Arbeiten ziehe sie daher die feineren vor: verputzen, abdichten, Überzüge machen. «Für die Männer ist das oft Gäggeliarbeit.»

Zwar ist Büttiker als Maurerin weiterhin eine Exotin. Doch Frauen treffe sie auf Baustellen mittlerweile häufiger an. Chauffeusen etwa, die gebe es immer mehr. «Für mich ist das sowieso kein Thema, dass ich die einzige Frau auf der Baustelle bin», sagt sie. «In der Firma werde ich gleich behandelt wie alle anderen, da gibt es nichts zu jammern.» Sie sieht sich nicht als Pionierin, schon gar nicht als Vorbild. Ihren Beruf habe sie gewählt, «weil er mir Spass macht. Ganz einfach». Frei ausleben konnte sie sich schon immer. Das sei doch letztlich das Ziel der Gleichstellung: «Dass jeder machen darf, was er will.»

«Nur wenige Paare fühlen sich unwohl»

Vitor Andrade da Rocha, Hebamme

Vitor Andrade da Rocha (46) arbeitet in Lausanne als selbständige Hebamme. Nur selten lehnt ein Paar ihn ab, weil er ein Mann ist.

Vitor Andrade da Rocha (46) arbeitet in Lausanne als selbständige Hebamme. Nur selten lehnt ein Paar ihn ab, weil er ein Mann ist.


Die Energie auf der Entbindungsstation, die mochte Vitor Andrade da Rocha von Anfang an. «Es ist der Ort, wo wir das Leben zelebrieren», sagt er. Seit 13 Jahren arbeitet der 46-jährige Portugiese als Hebamme, seit drei Jahren tut er dies als Selbständiger in Lausanne. Im Sommer hatte er alle Hände voll zu tun, viele Kollegen:innen sind in der Zeit in den Ferien. «Ich machte zu der Zeit fast jeden Tag einen Hausbesuch.»

Ursprünglich ist da Rocha Krankenpfleger und Portugal sein Heimatland. Bereits im Studium arbeitete er auf der Entbindungsstation, bald wollte er sich als Hebamme spezialisieren. In Portugal sind männliche Hebammen schon länger keine Ausnahme mehr; das Land hat EU-weit den höchsten Anteil männlicher Krankenpfleger; im Studium waren sechs der 30 Mitschüler:innen da Rochas männlich. Selbst der Präsident des portugiesischen Hebammenverbands war zu der Zeit ein Mann. «Niemand ist überrascht von einer männlichen Hebamme. Ich war keine Ausnahmeerscheinung.» Um traditionelle Geschlechterrollen hat er sich sowieso nie geschert.

Erst als da Rocha 2012 in die Schweiz zog, hat er gemerkt, dass seine Berufswahl doch aussergewöhnlich ist. «Hier ist die Kultur anders als in Portugal.» Lange sträubte sich der Schweizerische Hebammenverband gegen Männer in dem Beruf. Im Jahr 2004, nachdem erstmals ein Mann in der Schweiz die Hebammenschule abgeschlossen hatte, sagte die damalige Präsidentin des Verbands: «Hebamme ist ein Frauenberuf. Und soll es bleiben.» Seither sind einige Männer mehr in den Beruf eingestiegen. Im Spital CHUV in Lausanne, wo da Rocha 2012 anfing, waren sie immerhin eine Hand voll männlicher Hebammen. Dennoch: «Die Einstellung zum Beruf ändert sich nur langsam. Leider.»

Wenn Schwangere und ihre Ehemänner da Rocha kennenlernen, sind einige überrascht, einen Mann vor sich zu haben. «Meistens klappt es aber sehr gut.» Nur ab und zu gebe es Pärchen, die sich unwohl fühlten mit einer männlichen Hebamme. «Das ist aber eine Minderheit.» Tatsächlich freuten sich viele Männer sogar, einen männlichen Ansprechpartner für ihre Sorgen zu haben. Die Vorurteile gegenüber männlichen Hebammen nerven da Rocha ohnehin, genau wie die Einstellungen zum Hebammenjob generell: «Man sollte unserer Arbeit mehr Vertrauen schenken», sagt er. «Es kommt leider immer noch vor, dass wir nicht genügend respektiert werden, obwohl wir ein Kind gut alleine auf die Welt bringen können.»

Bei Entbindungen ist da Rocha heute nur noch selten dabei. Drei Viertel seiner Arbeit bestehen aus der Nachsorge, der Zeit nach der Geburt: Er macht Hausvisiten, unterstützt die Frauen beim Stillen, wiegt die Babys, schaut nach den Nähten bei Kaiserschnitten und steht dem Paar bei allen Sorgen zur Seite. «Der schönste Teil meines Jobs ist, wenn ich den Frauen Mut machen kann und ihnen Kraft gebe – und am Ende alles super klappt.»

«An meiner Leistung wurde nie gezweifelt»

Anika Nyfeler, Leutnant

Anika Nyfeler (24) ist Leutnant in der Schweizer Luftwaffe. Bald will sie Hauptmann werden. In der Uniform fühlt sie sich nicht als Frau, sondern als Teil von etwas Grösserem.

Anika Nyfeler (24) ist Leutnant in der Schweizer Luftwaffe. Bald will sie Hauptmann werden. In der Uniform fühlt sie sich nicht als Frau, sondern als Teil von etwas Grösserem.

Frau Hauptmann, das wärs. «Den Kadi abverdienen», dieses Ziel hat die 24-jährige Anika Nyfeler aus Oberdiessbach im Kanton Bern vor Augen. «Damit habe ich noch mehr Mitspracherecht und kann meine Ideen einbringen.» Aktuell ist Nyfeler Leutnant in der Schweizer Luftwaffe. Als Zugführerin in der Lufttransportkompanie 2 der Schweizer Luftwaffe ist sie während ihrer WKs am Militärflugplatz in Alpnach im Kanton Obwalden stationiert. Dort sorgt sie dafür, dass die Armee-Helikopter richtig bereitgestellt und gewartet werden, sie koordiniert die Personalplanung und plant den Flugbetrieb. Dabei ist sie oft in der Luft.

Der Traum vom Fliegen ist der Grund, warum Anika Nyfeler als Frau in der Schweizer Armee ihren Dienst leistet. «Als Kind wollte ich erst Astronautin, dann Militärpilotin für Helikopter werden.» Ihr Vater war Offizier und Privatpilot, mit ihm war sie viel auf Flugplätzen oder besuchte Flugshows. Als 16-Jährige durfte sie zum ersten Mal selber das Steuer in die Hand nehmen. «Mich fasziniert die Freiheit in der Luft. Sich so frei zu bewegen, wie man will.» Um Militärpilotin zu werden, muss man sich erst den Dienstgrad des Leutnants abverdienen.

Es gibt einen weiteren Grund, warum Nyfeler Militärdienst leistete. «Ich wollte herausfinden, wie weit ich körperlich und mental gehen kann.» In der Armee habe sie sich auf eine ganz neue Art kennengelernt. «Ich bin selbstbewusster geworden, ruhiger. Mich bringt so schnell nichts aus der Fassung.» In der RS waren sie noch drei Frauen, ab der Unteroffiziersschule war Nyfeler die einzige weibliche Militärangehörige auf ihrer Stufe. Vermisst hat sie andere Frauen nicht. «Ich habe mich gar nicht mehr als Frau wahrgenommen, sondern als Teil von etwas Grösserem.» Der grösste Unterschied zu ihren männlichen Kameraden war, dass sie ein separates Zimmer hatte am anderen Ende der Kaserne. «Ansonsten wurde ich von allen gleich behandelt und respektiert.» Nie habe jemand an ihrer Leistung gezweifelt, weil sie eine Frau sei. «Ich fühle mich absolut gleichberechtigt.»

Eine Frau in Uniform erzeugt trotzdem Aufmerksamkeit. Der Frauenanteil in der Armee beträgt weniger als ein Prozent. Die Armee will diesen bis 2030 auf zehn Prozent steigern. Die Schweizerische Offiziers­gesellschaft sprach sich im Sommer gar dafür aus, die Dienstpflicht auf Frauen auszuweiten. Nyfeler unterstützt eine allgemeine Dienstpflicht für Frauen, der Militärdienst sollte aber freiwillig bleiben. «Man sollte niemanden zwingen, sondern die motivierten Frauen gewinnen.»

Der Traum von der Militärpilotin aber ist geplatzt. Ihre Sehstärke reichte knapp nicht aus. «Da ist eine Welt für mich zusammengebrochen. Ich hatte meine gesamte Zukunft auf diesen Kindheitstraum ausgelegt.» Trotzdem habe sie es keine Sekunde bereut, Armeedienst zu leisten. Die Luftfahrt blieb ihr Ziel – bloss zivil. An der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur studiert sie derzeit Aviatik. «Vielleicht bewerbe ich mich bei der Swiss als Pilotin», sagt sie, «wenn Corona das wieder erlaubt.»

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