Interview mit einer non-binären Person
Sigmond ist weder Mann noch Frau – sondern einfach Sigmond

Unsere binär geprägte Gesellschaft trennt noch immer streng zwischen Mann und Frau, dabei sind Genderidentitäten vielfältig. Sigmond Richli (35) erzählt, wie es ist, non-binär zu sein und mit welchen Diskriminierungen Sigmond im Alltag zu kämpfen hat.
Publiziert: 28.10.2022 um 11:43 Uhr
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Aktualisiert: 01.11.2022 um 10:21 Uhr
Jasmin Gruber

Es wird immer von der Gleichstellung zwischen Mann und Frau gesprochen. Was sagen Sie als non-binäre Person dazu?
Die Abschaffung von geschlechterbasierter Diskriminierung ist enorm wichtig. Die Gleichstellung zwischen Mann und Frau muss natürlich erreicht werden. Genauso wichtig sind allerdings auch die Gleichstellung und die Nicht-Diskriminierung von trans und non-binären Menschen.

Ordnen Menschen Sie einem bestimmten Geschlecht zu, wenn sie Sie kennenlernen?
In der trans- und non-binären Community lesen mich die meisten richtig, oder sie fragen nach. Ansonsten werde ich noch oft weiblich gelesen. An der Supermarktkasse werde ich, wenn ich etwa Bier kaufe, oft nach dem Ausweis gefragt, weil ich für einen Jungen gehalten werde. Was vielen Menschen nicht bewusst ist: Wir können nicht aufgrund des Äusseren auf das Geschlecht einer Person schliessen.

Stellen Sie Ihre Identität jeweils richtig oder scheuen Sie Diskussionen?
Im privaten oder beruflichen Umfeld stelle ich es richtig. Denn das sind die Menschen, mit denen ich meine Zeit verbringe, da ist ein respektvoller Umgang wichtig. Es ist aber auch anstrengend, und an manchen Tagen fehlt mir schlicht die Kraft dazu, mich zu outen und meine Geschlechtsidentität zu erklären. Denn ich weiss nie, wie das Gegenüber reagiert.

Sigmond Richli setzt sich für mehr Akzeptanz von trans und non-binären Menschen in der Schweiz ein.
Foto: Anne Gabriel-Jürgens
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Wann haben Sie gemerkt, dass Sie non-binär sind?
Ich habe nie in die Schublade des Mädchens oder der Frau gepasst. Mir wurde immer wieder gesagt, ich soll mich weiblicher kleiden und verhalten. Ich habe es versucht, mich dabei aber selbst verleugnet und bin schlussendlich kläglich gescheitert. Dafür, dass ich non-binär und trans bin, habe ich erst vor ein paar Jahren eine Sprache gefunden, und danach ergab sehr vieles in meinem Leben Sinn.

Wann haben Sie sich dem ersten Menschen geöffnet?
Erst vor zwei Jahren habe ich mich bei meiner Ärztin geoutet, das war eine grosse Befreiung. Später habe ich mich meinem engeren Umfeld anvertraut, danach bei der Arbeit. Die meisten haben sehr positiv reagiert und mich unterstützt. Bei manchen dauerte es etwas länger mit der Umstellung auf eine neutrale Anrede und den neuen Namen, bei mir selbst ja auch. Die amtliche Namensänderung habe ich vergangenen Frühling gemacht.

Wieso haben Sie sich keinen geschlechtsneutralen Namen ausgesucht?
Für einige non-binäre Menschen ist es sehr wichtig, dass ihr Name ihre Geschlechtsidentität widerspiegelt. Für mich aber nicht. Trotzdem war es mir wichtig, den alten Namen, den ich sehr gemocht habe, abzulegen, da er klar ein Frauenname ist und ich die Befürchtung hatte, in meiner Non-Binarität nicht ernst genommen zu werden. Der Namensfindungsprozess war für mich lang und nicht einfach.

Sigmond Richli

Sigmond Richli (35) hat Philosophie und Psychologie studiert und arbeitet als Wissenschaftliche Assistenz an der Universität Zürich zur Philosophie Hegels. Sigmond ist Teil des Co-Präsidiums des Vereins Transgender Network Switzerland (TGNS) und wohnt in Zürich. Zum Ausgleich wandert Sigmond oft in den Bergen, wo Sigmond auch aufgewachsen ist.

Sigmond Richli (35) hat Philosophie und Psychologie studiert und arbeitet als Wissenschaftliche Assistenz an der Universität Zürich zur Philosophie Hegels. Sigmond ist Teil des Co-Präsidiums des Vereins Transgender Network Switzerland (TGNS) und wohnt in Zürich. Zum Ausgleich wandert Sigmond oft in den Bergen, wo Sigmond auch aufgewachsen ist.

Welche Pronomen verwenden Sie für sich?
In der deutschen Sprache keine oder meinen Namen, weil es keine verbreiteten neutrale Pronomen gibt. Das ist manchmal umständlich. Im Englischen ist es einfacher, weil es das geschlechtsneutrale Pronomen «they» gibt.

Was ist der Unterschied zwischen einer trans Frau oder einem trans Mann und einer non-binären Person?
Trans ist ein Oberbegriff, der für Menschen steht, die sich nicht mit dem bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht identifizieren. Es gibt trans Menschen, die sich klar als Frau oder Mann sehen, und solche, die sich mit keinem dieser zwei Geschlechter (vollständig) identifizieren können. Das sind non-binäre Menschen. Aber nicht alle non-binären Menschen bezeichnen sich selbst als trans. Ich persönlich bin transmaskulin und non-binär, also kein Mann und auch keine Frau. Viele Leute verstehen das nicht. So klar, wie andere wissen, dass sie eine Frau bzw. ein Mann sind, weiss ich, dass ich beides nicht bin.

Würde in Ihren Augen die Abschaffung der Geschlechter Sinn machen?
Das kommt drauf an, was wir mit «Geschlecht» überhaupt meinen. Geschlechtsidentität ist nicht dasselbe wie Geschlechtsausdruck oder welche körperlichen Merkmale eine Person aufweist. Über die Abschaffung von körperlichen Merkmalen lässt sich nicht diskutieren. Welche Rollenvorstellungen und Erwartungen damit verbunden sind oder was in staatlichen Registern erfasst wird, schon. Viele non-binäre Menschen würden sich wünschen, keinen amtlichen Geschlechtseintrag mehr haben zu müssen. Die Erfassung geschlechterbasierter Diskriminierung und Gewalt bleibt aber immer noch wichtig. Das wäre nach wie vor möglich, auch wenn es Personen ohne amtliches «F» oder «M» gibt.

Non-Binarität bezieht sich auf die Geschlechtsidentität eines Menschen und hat nichts mit der Sexualität zu tun. Verlieben Sie sich auch unabhängig vom Geschlecht einer Person?
Ich bin in einer ländlichen Gegend aufgewachsen. Bei uns gab es nur Mann und Frau, Hochzeit und Kinder. Trotzdem habe ich meine Sexualität oft in Frage gestellt. Ich habe mich schon als heterosexuell und später als lesbisch bezeichnet, jetzt manchmal als schwul. Für mich stimmt aber keine dieser Bezeichnungen. Was ich mit Sicherheit sagen kann: Ich bin nicht heterosexuell. Queer wäre wohl am passendsten.

Welche Formen der Diskriminierung erleben Sie im Alltag?
Die Wahl öffentlicher WCs bleibt schwierig. Im Frauen-WC werde ich meist schräg angesehen, und an das für Männer muss ich mich noch gewöhnen. Unisextoiletten würden dies lösen. Auch bei Dokumenten und Formularen muss ich mich immer zwischen den beiden Möglichkeiten «F» und «M» entscheiden. Beide passen aber nicht. In Deutschland kann man den Geschlechtseintrag im Pass auf «divers» setzen oder sogar streichen. In der Schweiz leider noch nicht.

Wieso hinkt die Schweiz bei so vielen Themen hinterher?
Wir sind in gesellschaftlichen Themen sehr konservativ, und die politischen Mühlen mahlen bekannterweise eher langsam.

Zürcher Schulen schaffen geschlechtsneutrale WCs. Ist das der richtige Schritt Richtung Inklusion?
Es ist enorm wichtig für Kinder und Jugendliche, die trans und/oder non-binär sind. Niemand verliert. Es gibt nicht weniger WCs, sondern einfach eines mehr. Fakt ist, dass gewisse Kinder und Jugendliche sich sonst nicht aufs WC getrauen, weil sie sich nicht sicher genug fühlen.

Immer mehr Menschen, darunter auch Stars wie Demi Lovato, Sam Smith und Tamy Glauser, machen öffentlich, dass sie non-binär sind. Böse Zungen sprechen von einem Hype.
Wir führen Diskussionen wie in den 80er-Jahren, als sich viele homosexuelle Menschen geoutet haben. Es gab uns schon immer, nur leben wir erst jetzt in einer Gesellschaft, in der wir uns outen können, trotz der nach wie vor massiven Gewalt und Diskriminierung. Der Hype-Vorwurf hat keinen Realitätsbezug. Wir suchen uns unsere Geschlechtsidentität nicht aus. Non-binär und/oder trans zu sein, bringt keine Vorteile mit sich. Im Gegenteil.

Erleichtern diese medienwirksamen Diskussionen das Leben von non-binären Personen oder zementieren sie eher Vorurteile?
Es kommt darauf an, wie diese Diskussionen geführt werden. Der rechtskonservative Wind aus den USA oder dem Vereinigten Königreich erreicht langsam auch uns, und es droht ein Rückschritt – nicht nur für non-binäre Menschen. Natürlich helfen Personen, die sich öffentlich outen. Ich wäre als Kind froh gewesen um solche Vorbilder.

EqualVoice

Als internationaler Medienkonzern setzt sich die Ringier-Gruppe mit ihrer publizistischen und technologischen Kraft seit 2019 für die Gleichwertigkeit von Frauen und Männern ein. Ringier will mit der EqualVoice-Initiative die Frauen in der Berichterstattung sichtbarer machen, denn heute handeln Medienartikel in der Schweiz zu 72 Prozent von Männern. Zudem soll die Initiative mehr weibliche Vorbilder schaffen. Um das zu erreichen, misst Ringier den Frauen- und Männeranteil in den Onlineberichten mit einem von der ETH verifizierten Algorithmus und veranstaltet Events.

Als internationaler Medienkonzern setzt sich die Ringier-Gruppe mit ihrer publizistischen und technologischen Kraft seit 2019 für die Gleichwertigkeit von Frauen und Männern ein. Ringier will mit der EqualVoice-Initiative die Frauen in der Berichterstattung sichtbarer machen, denn heute handeln Medienartikel in der Schweiz zu 72 Prozent von Männern. Zudem soll die Initiative mehr weibliche Vorbilder schaffen. Um das zu erreichen, misst Ringier den Frauen- und Männeranteil in den Onlineberichten mit einem von der ETH verifizierten Algorithmus und veranstaltet Events.

Haben Sie Verständnis dafür, wenn andere Fehler machen oder schlicht nicht begreifen (wollen), was Non-Binarität ist?
Ich habe Verständnis für unabsichtliche Fehler, nicht für Verweigerung. Ich weiss, dass andere Pronomen und ein neuer Name eine Umstellung bedeuten. Aber wenn ich eine Person zum zehnten Mal korrigieren muss, hört mein Verständnis auf. Ich möchte einfach so angesprochen werden, wie es für mich stimmt.

Was wünschen Sie sich von anderen Menschen?
Ich wünsche mir, dass wir nicht mehr darum kämpfen müssen, existieren zu dürfen. Wir sind hier und waren es schon immer. Ich wünsche mir, dass unsere Lebensrealitäten respektiert werden und wir selbstbestimmt leben können – so wie es für alle sein sollte. Eine dritte Option für Geschlechtseinträge würde niemandem schaden, ist für uns aber existenziell. Gleichzeitig wünsche ich mir, solche Wünsche nicht mehr formulieren zu müssen.

Dieser Artikel stammt aus dem Print-Magazin zur Ringier-Initiative EqualVoice.

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