Mit 45 Jahren zum Lehrerberuf
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Mein neues altes Ich:Mit 45 Jahren zum Lehrerberuf

Mein neues altes Ich: Blick-Leserin wird mit 45 Jahren Sekundarlehrerin
«Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich Claudia 2.0»

Nach drei Studiengängen und einer Karriere als Werbeleiterin beschliesst Claudia Bambauer (49), Sekundarlehrerin zu werden. Wie es dazu kam, wie es ist, mit über 40 erstmals single zu sein und weshalb ein schönes Haus allein kein glückliches Leben verspricht.
Publiziert: 24.01.2022 um 14:12 Uhr
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Aktualisiert: 28.01.2022 um 15:37 Uhr
Noah Salvetti (Text), Thomas Meier (Fotos)

Das Schulhaus Walenbach in Wetzikon ZH ist nicht wie jedes andere Schulhaus. Hier trifft man warmes Gelb statt dunkles Grau an, Ziegel statt nackten Beton. «Beim Bau des Schulhauses wurde besonders darauf geachtet, dass sich die Schülerinnen hier wohlfühlen», erklärt Claudia Bambauer (49) beim Gang durch das Foyer. Wir treffen die Blick-Leserin zwischen Regalen voller Jugendromane in der Schulbibliothek. Dass wir da mit einer frischgebackenen Lehrerin sprechen und nicht mit einem «alten Hasen», wird erst mit Blick auf den Lebenslauf der Leserin klar.

«Mein neues altes Ich»: Darum gehts

«Erstens kommt es anders, und zweitens, als man denkt», sagt der Volksmund. Wir finden: Da ist etwas dran. In der zweiten Lebenshälfte macht man sich vermehrt Gedanken darüber, wo man im Leben steht: Habe ich noch unerfüllte Träume? Bin ich zufrieden mit meiner jetzigen Situation? Oft als «Midlife-Crisis» abgestempelt, leiten diese Gedanken oft eine Neuorientierung ein.

Blick hat Leserinnen und Leser aufgespürt, die all ihren Mut zusammengenommen haben und ihr Leben in der zweiten Lebenshälfte total umgekrempelt haben. Hier stellen wir sie und ihr «neues altes Ich» vor.

«Erstens kommt es anders, und zweitens, als man denkt», sagt der Volksmund. Wir finden: Da ist etwas dran. In der zweiten Lebenshälfte macht man sich vermehrt Gedanken darüber, wo man im Leben steht: Habe ich noch unerfüllte Träume? Bin ich zufrieden mit meiner jetzigen Situation? Oft als «Midlife-Crisis» abgestempelt, leiten diese Gedanken oft eine Neuorientierung ein.

Blick hat Leserinnen und Leser aufgespürt, die all ihren Mut zusammengenommen haben und ihr Leben in der zweiten Lebenshälfte total umgekrempelt haben. Hier stellen wir sie und ihr «neues altes Ich» vor.

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Kein Wunder – das Pädagogikstudium, das sie kommenden Sommer mit einem Master abschliesst, ist nicht ihr erstes Studium. Trotz Abschlüssen in Betriebswirtschaft, Philosophie, Geschichte der Neuzeit und Kunstgeschichte, entschied sie sich mit 45 Jahren, ein neuerliches Studium in Angriff zu nehmen. «Gemeinsam mit meinem Berufscoach beim RAV kam ich nach vielen Absagen auf die Idee, Sekundarlehrerin zu werden. Weil ich schon immer vielfältige Interessen hatte und weil es gerade viele Lehrkräfte braucht.»

Drei Studien, eine Leidenschaft

Doch die Geschichte von Claudia Bambauer, die mit ihrem dunkelblauen Blazer eine natürliche Autorität ausstrahlt – und im Vorbeigehen Schülerinnen und Schüler begrüsst und mit ihnen plaudert – beginnt anderswo. Genauer: im schwäbischen Ravensburg.

Blick-Leserin Claudia Bambauer (49) hat ihr Leben radikal umgekrempelt.
Foto: Thomas Meier
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Nach dem Studium arbeitet sie als Werbeleiterin beim Ravensburger Buchverlag. Beeindruckt von den gebildeten Geisteswissenschaftlern im Verlag nimmt sie sich vor, eines Tages etwas Ähnliches zu studieren – zur Not auch erst im Rentenalter. Als sie ihren Mann, einen einflussreichen Geschäftsmann, kennenlernt, kündigt sie ihren Job und kümmert sich fortan um Kind und Haushalt. «Klassisch», wie sie sagt.

Früh bemerkt die 49-jährige, dass die neue Rolle sie nicht ausfüllt. «Auch geistig nicht. Denn mit einem Sohn und einem Mann, der fast nie da ist, gibt es einfach nicht so viel zu tun.» Und so zieht Claudia Bambauer eine neue geistige Herausforderung an Land. «Ich beschloss, an der Uni Zürich Philosophie zu studieren. Aus Interesse – und damit mir nicht langweilig wurde», berichtet sie. Es gesellen sich Kunstgeschichte und Geschichte der Neuzeit hinzu. Eine Reise nach Rom entfacht in ihr ein Feuer.

«Ich war überwältigt von der Kunst der italienischen Renaissance und der Papstgeschichte und fand in der Kunstgeschichte meine Leidenschaft. Und so studierte ich diese auch noch im Hauptfach», sagt sie. Ihr Blick schweift zu einem Buch über Michelangelo, das einen vom Bücherregal aus anlacht. Noch heute fahre sie mindestens einmal im Jahr in die «ewige Stadt».

«Irgendwann vergisst man, was man selbst will»

Als «Familienmanagerin» kümmert sich Claudia Bambauer auch um die Planung des gemeinsamen Einfamilienhauses in Rapperswil-Jona SG. Ein Traumhaus, wie sie sagt. Doch die heile Welt hält nicht lange. Ein Jahr später, just vor ihrem Studienabschluss, folgt der Bruch: Die Blick-Leserin trennt sich von ihrem Mann und zieht aus.

«Wenn man in seinem Traumhaus sitzt und merkt, dass man noch gleich einsam und unglücklich ist wie vorher, dann hat der Hausbau wohl vielmehr davon abgelenkt, als wirklich etwas verändert», berichtet Bambauer. Das Problem: «Ich habe mein Leben voll und ganz auf meinen Ehemann ausgerichtet, der aber sehr viel unterwegs war. Und hätte mir gewünscht, die wenige freie Zeit harmonisch miteinander zu verbringen.»

Im Leben gebe es ja so etwas wie fünf Säulen, die möglichst nicht alle zeitgleich wegbrechen sollten, erklärt die Sekundarlehrerin, während die Schulglocke erklingt. Familie und Freunde, Beruf, Beziehung und Hobby. «Bei mir war eigentlich nur noch ersteres übrig. Wenn man vom Elternhaus trockenen Fusses in eine Ehe geht, nie alleine gelebt hat, nie selbst Geld verdient hat, nie eine eigene Wohnung eingerichtet hat und sich zwölf Jahre lang nur nach dem anderen richtet, vergisst man irgendwann, was man selbst will.»

Die Lehre nach der Leere

Obwohl es eine bewusste und längst überfällige Entscheidung gewesen sei, sich zu trennen, hadert sie lange mit der neuen Situation. «Ich war damals auf einen Schlag alleinerziehend, wobei ich das vorher quasi auch schon war – nur diesmal ohne Bankvollmacht.»

Überfordert habe sie aber vor allem eines: «Die emotionale Leere. Mit 43 zum ersten Mal single zu sein, hat sich schrecklich angefühlt und war ein grosser Schock.» Sie habe oft nicht gewusst, wie es weitergehen sollte, erzählt Bambauer. Klar war aber: Sich in eine neue Beziehung zu retten, ist keine Option.

Dass es ausgerechnet vor dem Studienabschluss in Kunstgeschichte zur Trennung kommt, habe die Sache nicht besser gemacht. «Ich wollte alles hinschmeissen. Schliesslich hatte ich das Studium nur aus Spass an der Freude angefangen. Zum Glück konnte ich auf Freundinnen aus Deutschland zählen: Jeden Tag hat jemand angerufen und mich motiviert, meinen Abschluss doch noch zu machen.»

160 Bewerbungen trotz Masterabschluss

Einen Job zu finden, gestaltet sich äusserst schwierig, zumal Kunstgeschichte ein sehr spezialisiertes Berufsfeld ist. Neben der Tätigkeit als freiberufliche Werbetexterin, ergibt sich die Möglichkeit, fünf Stunden pro Woche an einer Kunstschule zu dozieren. «Dort habe ich bemerkt, dass mir die Arbeit mit Jugendlichen Freude bereitet und dass man beim Unterrichten selbst enorm viel dazu lernen kann», erzählt sie.

Der Haken an der Sache: Die beiden Teilzeitpensen decken kaum alle Rechnungen. «Dabei hätte ich so gerne meine Erfahrungen als Betriebswirtin mit den neuen Kenntnissen verknüpft.» Was dann folgt, hat es in sich: In zwei Jahren schreibt die Blick-Leserin 160 Bewerbungen. Bei einer einzigen Stelle darf sie sich vorstellen, doch auch dort entscheidet man sich gegen sie.

«Überqualifiziert, 15 Jahre lang nicht gearbeitet, zu alt – es waren immer dieselben Gründe», sagt Bambauer. «Selbst mein RAV-Berater war irgendwann mit seinem Latein am Ende.» Bis die Idee, Sekundarlehrerin zu werden, zustande kommt. Im schmucken Schulhaus im Zürcher Oberland unterrichtet Claudia Bambauer Geschichte, Geografie, Philosophie und Wirtschaft, Arbeit, Haushalt. «Der fachliche Kreis hat sich also geschlossen.»

Heute weiss die Sekundarlehrerin: Sich noch einmal total neu zu erfinden, hat sie stärker und ihr Leben reicher gemacht. «Ich sage immer: Die Claudia, die ich heute im Spiegel erblicke, ist Claudia 2.0.»

Im Grunde sei es das Beste gewesen, was ihr passieren konnte. «Ich habe einen neuen Beruf, der mir sehr viel Freude bereitet, neue Freundschaften geschlossen und mit Golf ein neues Hobby gefunden. Und ich habe viele Länder bereist und dabei bemerkt, dass man alleine oft die spannendsten Orte und Menschen kennenlernt.»

Den Mut haben, frei zu sein

Allein zu sein, hat sie schätzen gelernt: «Man ist so frei und kann sich treiben lassen.» Dabei half ihr nicht zuletzt auch die Philosophie. Gewohntes zu hinterfragen und darüber nachzudenken, was gut und richtig ist, mache das Leben zwar nicht immer einfacher.

Doch: «Die Herausforderungen, die ich meistern musste, lassen sich nicht nur mit Wissen meistern.» Dazu habe es Mut, Energie und Durchhaltewille gebraucht, sagt Claudia Bambauer – und zitiert den griechischen Staatsmann Perikles: «Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut.»

Und auch die Schülerinnen und Schüler geniessen die Freiheit, als sie beim Ertönen der Klingel auf den Pausenplatz strömen.

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