SRK-Direktor Markus Mader über die Lage zehn Jahre nach dem Erdbeben
«In Haiti brauchts uns noch lange»

Der Karibikstaat kommt nicht zur Ruhe: Zehn Jahre nach dem schweren Erdbeben lähmt eine Protestwelle das bettelarme Haiti. Markus Mader, Direktor des Roten Kreuzes, über starke Haitianer und überforderte Helfer.
Publiziert: 12.01.2020 um 00:16 Uhr
In Kooperation mit SRK

Interview: Lynn Scheurer

Markus Mader, Sie haben Haiti seit dem Erdbeben vor zehn Jahren mehrmals bereist. Was ist Ihnen geblieben?
Ich erinnere mich an die Offenheit und die Wärme der Menschen. Und an ihren Stolz.

Wie meinen Sie das?
Nach dem Erdbeben war ich in der Hauptstadt Port-au-Prince. Überall Zelte und Lager für die Obdachlosen. Und aus diesen elenden Verschlägen kamen morgens um halb acht Hunderte Kinder – tipptopp angezogen! Sie trugen saubere Schuluniformen, weisse Rüschensöckchen und hatten die Haare schön gemacht.

Markus Mader ist seit 2008 Direktor des Schweizerischen Roten Kreuzes.
Foto: Kurt Reichenbach
Kinder holen im Dorf Tchawa bei Leogane Wasser aus einem Bach. Das Schweizerische Rote Kreuz stärkt in Haiti die Zivilbevölkerung.
Foto: Florian Kopp

Auf derselben Insel wie Haiti liegt die Dominikanische Republik. Der geht es wirtschaftlich und touristisch viel besser. Wie kommt das?
Haiti wurde abgeholzt, die Dominikanische Republik nicht. Ein entscheidender Unterschied. Die Frage der Nachhaltigkeit stellte sich auf Haiti schon vor 200 Jahren, und Europa ist mit schuld daran, wie damals die Weichen gestellt wurden.

Und heute?
Die Regierung und die Eliten tragen die Hauptverantwortung für den Zustand des Landes. Mit unserer Arbeit stärken wir die Zivilbevölkerung.

«Ich bin zuversichtlich, dass sich unser Einsatz lohnt»: Markus Mader.
Foto: Kurt Reichenbach

Seit September demonstriert das Volk gegen Präsident Jovenel Moïse. Dabei blockierten Leute auch Strassen zu Projekten, die das SRK aufgebaut hat. Befürworten Sie die Proteste?
Die Lebensbedingungen sind sehr schwierig. Die Unzufriedenheit der Menschen ist nachvollziehbar. Wichtig ist, dass sie ihre Rechte kennen und sie einfordern können.

Wer von hier aus auf Haiti blickt, sieht vor allem Elend, keine Parallelen zur Schweiz.
Menschen vergessen schnell. Dabei war bei uns die Kindersterblichkeit vor 100 Jahren noch ähnlich hoch wie jetzt in Haiti. Entwicklung braucht Zeit. Ich bin zuversichtlich, dass sich unser Einsatz lohnt und es den Haitianern trotz allen Rückschlägen in ein paar Jahrzehnten deutlich besser geht. Aber es wird uns noch lange brauchen.

Das Schweizerische Rote Kreuz auf Haiti

Nach dem schweren Erdbeben von 2010 verwüstete 2016 Hurrikan Matthew den Inselstaat. Das SRK half bei Reparaturen, errichtete 600 sturmfeste Häuser und Frühwarnsysteme. Es sensibilisiert die Menschen für gesunde Ernährung und Hygiene, unterstützt sie bei der Stabilisierung von Hängen.

Nach dem schweren Erdbeben von 2010 verwüstete 2016 Hurrikan Matthew den Inselstaat. Das SRK half bei Reparaturen, errichtete 600 sturmfeste Häuser und Frühwarnsysteme. Es sensibilisiert die Menschen für gesunde Ernährung und Hygiene, unterstützt sie bei der Stabilisierung von Hängen.

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Binden Sie die Bevölkerung ein?
In Haiti kommen auf zwei unserer Expats 60 Mitarbeitende des lokalen Roten Kreuzes. Zudem Hunderte ausgebildete Freiwillige, die sich in unseren Projekten engagieren. Der Grossteil wird also mit und von der Bevölkerung geleistet.

In Haiti gibt es so viel, das nicht funktioniert. Wie gehen Sie das an?
Ich war sechs Jahre lang Gemeindepräsident im sankt-gallischen Eggersriet. Dort kümmerte ich mich etwa um Grundwasserquellen, Strassenbau und Elektrizität. Als ich nach Haiti kam, merkte ich: Die machen hier ja dasselbe wie ich früher!

Im Village Morin in Haiti betreibt eine Frauengruppe mit Unterstützung des SRK ein Wiederaufforstungsprojekt.
Foto: Florian Kopp

Eggersriet hat Sie vorbereitet auf die schlimmsten Orte der Welt?
In gewissem Sinn tatsächlich (lacht). Damals hätte ich das nicht gedacht, jetzt freue ich mich darüber.

Welchen Einfluss hat der Klimawandel auf Haiti?
Er bringt mehr und heftigere Stürme, die viel Schaden verursachen. Gleichzeitig sterben weltweit weniger Menschen bei Naturkatastrophen, weil die Vorsorge besser wurde. Das zeigt, wie wichtig unsere Arbeit ist: etwa der Bau sturmfester Häuser oder ein Katastrophenwarnsystem.

Die Haitianer sind katastrophenerprobt – haben sie kein eigenes System?
Kaum. Ein wichtiger Aspekt unserer Arbeit ist daher, Fluchtwege zu bauen und Evakuationen zu üben. Aber viele Haitianer haben Mühe, ihr Hab und Gut zurückzulassen.

Das ist Markus Mader

Der Ostschweizer ist seit 2008 Direktor des Schweizerischen Roten Kreuzes. Davor arbeitete er für das Kinderdorf Pestalozzi und war ehrenamtlich Präsident des Roten Kreuzes St. Gallen. Mader ist Vater von zwei Adoptivkindern aus Äthiopien.

Der Ostschweizer ist seit 2008 Direktor des Schweizerischen Roten Kreuzes. Davor arbeitete er für das Kinderdorf Pestalozzi und war ehrenamtlich Präsident des Roten Kreuzes St. Gallen. Mader ist Vater von zwei Adoptivkindern aus Äthiopien.

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Warum?
Aus Angst vor Plünderern. Auch Tiere lassen sie ungern zurück. Die Sensibilisierung ist sehr wichtig: Wenn sie die Warnglocke hören, gilt es ernst.

Die Haitianer kämpfen ums Überleben. Nehmen sie Katastrophenübungen ernst?
Ja, in unserem Projektgebiet auf jeden Fall. Es hilft, dass die Sturmwarnungen immer präziser werden, so gibt es deutlich weniger Fehlalarme als früher.

Welche Rolle spielt der Voodoo-Glauben in Haiti?
Bei den sturmfesten Häusern haben wir eine zweite Tür eingebaut gegen böse Geister. Die Haitianer sind tief katholisch und kombinieren das mit ihren Voodoo-Traditionen. Der Glaube hilft ihnen.

Inwiefern?
Sie sind überzeugt, dass es trotz allem gut kommt.

«Bis die Menschen nach einer Katastrophe Kraft schöpfen können, dauert es»: Markus Mader.
Foto: Kurt Reichenbach

Sie haben für das SRK bereits viele Länder bereist. Geht es Haiti am schlechtesten?
(Überlegt.) Nein. In einem warmen Land, in dem es Wasser gibt, sind die Menschen grundsätzlich zufriedener als dort, wo selbst das fehlt.

Das Rote Kreuz ist seit zehn Jahren auf Haiti aktiv. Wie ist Ihre Bilanz?
Es geht den Haitianern heute nicht schlechter als vor dem Erdbeben.

Das ist ernüchternd.
Bis die Menschen nach einer Katastrophe Kraft schöpfen können, dauert es. Das wäre in der Schweiz ähnlich. Das Erdbeben tötete 230000, machte 1,6 Millionen obdachlos und wirkt bis heute nach. Verschiedene Ämter wurden komplett zerstört. Die Leute können weder nachweisen, wann sie geboren wurden noch welches Stück Land ihnen gehört.

Viele Hilfsorganisationen und die Uno haben sich zurückgezogen. Wird Haiti im Stich gelassen?
Heute sind noch etwa fünf Prozent der ursprünglichen Hilfswerke da. Ein Rückzug kann sinnvoll sein. Besonders bei unprofessionellen Organisationen, die kurzfristig auftauchen und die Not sogar noch vergrössern.

Wie das?
Kleine, unerfahrene, oft religiös inspirierte Organisationen waren überfordert, hatten nicht einmal genug Essen für sich selbst und blockierten teilweise die Hilfe. Wer wie das SRK schon vor dem Erdbeben im Land verankert war, hat die Professionalität und den Schnauf, langfristig mit Volk und Staat zusammenzuarbeiten.

Wann stehen die Haitianer auf eigenen Beinen?
In zwei bis drei Generationen. Es macht die Menschen stolz, dass sie den letzten grossen Hurrikan besser überstanden haben als das Erdbeben. Sie sind heute widerstandsfähiger.

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