Der neue Garagist
Updates statt Schraubenschlüssel

Die individuelle Mobilität erlebt einen Wandel wie vor über 100 Jahren beim Umstieg von der Kutsche aufs Automobil. Wie wirken sich Elektromobilität und Digitalisierung auf die Betriebe der Garagisten aus – und welche Rolle spielen sie künftig?
Publiziert: 06.11.2021 um 17:22 Uhr
Raoul Schwinnen

Der Schweizer Tüftler und Autovisionär Frank M. Rinderknecht (65) überrascht seit über 40 Jahren mit Mobilitätsinnovationen. Elektromobilität und Digitalisierung sind für ihn die Zukunft der Mobilität und eröffnen neue Möglichkeiten, die es zu nutzen gilt. Natürlich gibt es Widerstände und Bedenken, wie sie immer laut werden, sobald man sich aus der eigenen Komfortzone herausbewegen muss. Aber Gegenwehr sei zwecklos, so Rinderknecht: «Als Garagist sollte man nicht über Elektroautos schimpfen, denn sie werden zweifellos Fuss fassen.»

Nicht nur das Automobil verändert sich derzeit. Es wandeln sich auch die Geschäftsmodelle und Prozesse der Branche. Entwickelt wird virtuell, die Modelle werden digital präsentiert und bei vielen Marken auch online verkauft. Geringerer Verschleiss und weniger Teile senken den Serviceaufwand bei modernen Autos deutlich – und bei elektrischen erst recht. Und schliesslich lässt sich ein Auto heute einfach per Smartphone leasen, mieten, teilen oder im Abo nutzen. Der Autobesitz könnte in absehbarer Zukunft zum Auslaufmodell werden.

Welche Rolle spielt der Garagist?

Schwierige Zeiten also für Garagisten. Plötzlich werden KI (Künstliche Intelligenz), OAUs (Over-the-Air-Updates) und AR (Augmented Reality) auch in der Dorfgarage aktuell. Hochspannungstaugliche Werkstattplätze werden benötigt, und eine Ladesäule sollte vor dem Schauraum stehen. Zum Investitions- und Weiterbildungsdruck kommt die Ungewissheit: Was muss der Garagist der Zukunft können? Welche Rolle wird er spielen? Und wie werden seine Werkstatt, sein Betrieb aussehen?

Transformers Bumblebee 2018: Ähnlich wie in den Transformers-Filmen mutiert auch der Garagist der Zukunft zum digitalen Alleskönner.
Foto: imago/Cinema Publishers Collection
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Fragen, die sich ein Garagist heute stellen muss, soll die Zeit ihn und seinen Betrieb nicht schon morgen überholen. Bei uns in der Schweiz ist die Kundenbindung lokal traditionell hoch. Mancher Käufer trifft die Markenentscheidung, weil der örtliche Garagist gleich um die Ecke residiert und er mit ihm die Schulbank gedrückt hat. Aber Kostendruck und die Rasanz, mit der wir unseren Konsum bei Mode, Elektronik oder Lebensmitteln wie im Handumdrehen ins Internet verlegt haben, sind längst auch im Autogeschäft spürbar. Wir wollen fahren, und zwar sofort – Service und Schnelligkeit werden künftig zum Wettbewerbsvorteil.

Spätestens in der Corona-Pandemie hat die Branche gelernt, in welchem Ausmass sich ihre Kundschaft schon vorab per Internet oder über Apps informiert. Leistung, Ausstattung, Preise – das haben die Interessenten im Kopf, wenn sie zum Händler gehen. Noch vor wenigen Jahren besuchte ein Kunde drei und mehr Mal den Schauraum, bis das neue Auto ausgewählt und der Vertrag unter Dach und Fach war – heute genügen im Schnitt weniger als 1,6 Besuche. Wenig Zeit für den Garagisten, um mit gutem Kaffee und bequemen Lounges zu glänzen. Dafür gewinnt das Sinnliche am Autokauf mehr Bedeutung – wenn er vor Ort ist, will der Kunde anfassen, riechen, spüren, fahren. Und mit der heutigen Antriebsvielfalt wird der Verkaufs- auch zum Mobilitätsberater. Denn Elektromobilität ist noch nicht für jede und jeden das Richtige.

Keine Wartezeiten mehr

Auch nach dem Kauf wandelt sich der Kontakt der Kundschaft zum Garagisten. Jagd nach einem Werkstatt- oder Pneuwechseltermin? Passé. Unverständliche oder nicht nachvollziehbare Servicerechnungen? Vorbei. Keine Wartezeiten mehr an der Werkstattannahme oder beim Abholen des Fahrzeugs – weil Kunden zukünftig nicht mehr physisch anwesend sein müssen. Termine gibts digital oder gar automatisiert anhand der Wartungsintervalle. Das Auto wird vom Mitarbeiter zuhause beim Kunden abgeholt, der Ersatzwagen gleich mitgebracht. Zulieferer Bosch arbeitet an einem System, mit dem die Werkstatt der Zukunft den Zustand der selbstverständlich vernetzten Kundenfahrzeuge permanent überwachen kann. So kann sie eine Reparatur bereits empfehlen, bevor das schwächelnde Bauteil ausfällt. Ein zentrales Kontrollgerät erfasst dazu alle Infos zum Betriebszustand und liefert sie in eine Datencloud, in der intelligente Algorithmen sie analysieren.

Forschungsprojekt Autowerkstatt 4.0

Das Forschungsprojekt Autowerkstatt 4.0 will das Gefühl eines Automechanikers oder -mechatronikers messbar machen. Denn das Auswechseln von Verschleissteilen wie etwa Zahnriemen oder Steuerketten beim Auto basiert oft auf pessimistisch ausgelegten Erfahrungswerten. So wird die Steuerkette oft vorsorglich nach etwa 160'000 Kilometern oder drei Jahren ersetzt. Unnötig, wenn das Bauteil noch in Ordnung ist. Andererseits: Gibt die Steuerkette früher auf, kann dies zu einem kapitalen Motorschaden führen.

Weil aber vorzeitiges Austauschen ineffizient ist, will Autowerkstatt 4.0 diese Ressourcenverschwendung bekämpfen: Die Partner des Projekts, ProLab, Bochumer Institut für Technologie und Auto-Intern-Gruppe, lassen im Motorraum genommene Masse per künstliche Intelligenz interpretieren, um eine genauere Diagnose zu ermöglichen. Werkstattmitarbeiter vergleichen die Messungen mit dem Zustand der Steuerkette oder des Zahnriemens, so dass später allein die Messung ausreicht, um zu beurteilen, ob das Bauteil ausgewechselt werden muss. «So vermeiden wir unnötige Reparaturen», berichten die Forscher von Autowerkstatt 4.0.

Das Forschungsprojekt Autowerkstatt 4.0 will das Gefühl eines Automechanikers oder -mechatronikers messbar machen. Denn das Auswechseln von Verschleissteilen wie etwa Zahnriemen oder Steuerketten beim Auto basiert oft auf pessimistisch ausgelegten Erfahrungswerten. So wird die Steuerkette oft vorsorglich nach etwa 160'000 Kilometern oder drei Jahren ersetzt. Unnötig, wenn das Bauteil noch in Ordnung ist. Andererseits: Gibt die Steuerkette früher auf, kann dies zu einem kapitalen Motorschaden führen.

Weil aber vorzeitiges Austauschen ineffizient ist, will Autowerkstatt 4.0 diese Ressourcenverschwendung bekämpfen: Die Partner des Projekts, ProLab, Bochumer Institut für Technologie und Auto-Intern-Gruppe, lassen im Motorraum genommene Masse per künstliche Intelligenz interpretieren, um eine genauere Diagnose zu ermöglichen. Werkstattmitarbeiter vergleichen die Messungen mit dem Zustand der Steuerkette oder des Zahnriemens, so dass später allein die Messung ausreicht, um zu beurteilen, ob das Bauteil ausgewechselt werden muss. «So vermeiden wir unnötige Reparaturen», berichten die Forscher von Autowerkstatt 4.0.

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Eine Kundin erhält dann beispielsweise im Cockpitdisplay die Aufforderung, einen Termin bei ihrem Garagisten zu vereinbaren, um einen Injektor der Einspritzanlage auszutauschen – er werde bald ausfallen. Am Tor zur Werkstatt wird ihr Kontrollschild erfasst; der Kundendienstberater erhält gleichzeitig die nötigen Daten für die geplante Reparatur. Während er das Fahrzeug zur Annahme fährt, liest eine Software den Fehlerspeicher aus und überprüft Batterie, Reifendruck sowie die Fahrwerksgeometrie. So kann der Berater die Kundin sofort über die anstehenden Arbeiten und die möglichen Kosten informieren.

Reparaturen werden digital

Auch die Reparatur wird digital: Mit Tablet und Augmented-Reality-Technologie, also computergestützter Simulation, bei der sich reale und virtuelle Welt mischen, blickt der Mechatroniker in den Motorraum, prüft auf mögliche weitere Fehler und tauscht nötigenfalls die Teile aus. Holt die Kundin ihr Fahrzeug wieder ab, kann ihr der Berater die Reparatur per Tablet in allen Details erklären. Gleichzeitig werden die Daten zum Fahrzeug in der Cloud aktualisiert.

So könnte sich schon bald ein Werkstattbesuch abspielen. Der Wechsel mechanischer Komponenten macht also auch in Zukunft physische Besuche in der Garage nötig. Weil der Kern moderner Autos längst ihre Software ist, lassen sich viele Fehlerbehebungen und Funktionserweiterungen aber auch per Update wie beim Smartphone erledigen. Die neue Software wird dabei schon heute von vielen Herstellern via Mobilfunknetz, also «over the air», für den Kunden bequem und kaum bemerkbar aufgespielt. Aktualisierungen von Navi oder Infotainment, aber auch die Freischaltung zusätzlicher Funktionen wie Fahrassistenz oder mehr Akku-Reichweite können so erfolgen. Dabei muss natürlich die nötige Hardware gleich ab Werk eingebaut werden. Aber auf Zeit hinzukaufen lassen sich solche Features auch später noch – per App, und ohne Besuch in der Werkstatt.

Proaktiv statt reaktiv handeln

Was bedeutet das alles nun für den Garagisten der Zukunft? Augen zu und durch, solange noch genügend Autos mit Verbrennungsmotor verkauft und gewartet werden können? Frank M. Rinderknecht rät zu anderem Vorgehen: In E-Mobilität und Digitalisierung sollten jetzt schon neue Nischen und Geschäftsfelder gesucht werden. «Man soll die Zukunft umarmen, statt sie abzuweisen. Und proaktiv statt reaktiv handeln.»

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