Zum ersten Mal seit 50 Jahren
Darum schrumpft Chinas Bevölkerung plötzlich

Lange Zeit galt in China eine Ein-Kind-Politik, um das Bevölkerungswachstum einzudämmen. Doch die Regel entpuppt sich heute als Boomerang. Nun beginnt das Riesenland zu schrumpfen.
Publiziert: 20.01.2023 um 10:55 Uhr

Bis vor wenigen Jahren war es chinesischen Paaren unter Strafe verboten, mehr als ein Kind zu bekommen. Seit 2021 erlaubt Peking bis zu drei Kinder. Doch der Babyboom bleibt aus, die Bevölkerung schrumpft sogar erstmals. Ein Grund dafür: Erwerbs- und Familienarbeit lassen sich in der Volksrepublik nur schwer vereinbaren.

Nancy, eine junge Mutter Anfang 30 aus Peking, versucht täglich den Spagat zwischen ihrem Job im Internethandel und der Kinderbetreuung. «Ich kann beides gar nicht unter einen Hut bringen», sagt Nancy, die in Wirklichkeit anders heisst, gegenüber der Agentur AFP. «Wenn man sein Kind stillen will, muss man im Grunde seine Arbeit aufgeben. Aber in unserer Lage ist das keine Option.»

In den vergangenen Jahren habe sich die Situation für Familien weiter verschlechtert, sagt Wenjing, die über Kindererziehung bloggt. «Durch die Pandemie haben viele Haushalte finanziell sehr gelitten. Unter diesen schwierigen Umständen beschlossen viele Menschen, keine weiteren Kinder zu bekommen», beobachtet die Bloggerin.

In China kommen immer weniger Kinder zur Welt. Zum ersten Mal seit mehr als 50 Jahren schrumpft die Bevölkerung.
Foto: AP
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Regierung hat Mutterschaftsurlaub verlängert

Zum ersten Mal seit mehr als einem halben Jahrhundert ging die Bevölkerung in China vergangenes Jahr zurück, wie das Statistikamt des – noch – bevölkerungsreichsten Landes der Erde am Dienstag bekannt gab. Experten warnen vor einer demografischen Krise, die das Wirtschaftswachstum bremsen und die öffentlichen Kassen belasten könnte.

Örtliche Behörden versuchen, mit diversen Massnahmen gegenzusteuern. Manche Kommunen zahlen Eltern anfangs eine monatliche Unterstützung, andernorts gibt es einen Geburtsbonus. In Grossstädten wie Peking und Shanghai wurde der Mutterschaftsurlaub auf bis zu 158 Tage verlängert. Das sind 60 Tage mehr als in China üblich. Seit vergangenem Jahr sind Kommunalverwaltungen zudem verpflichtet, Krippenplätze zur Verfügung zu stellen.

Doch Kinderbetreuung müssen sich Eltern leisten können. Ein Platz in einem privaten Kindergarten in Peking kostet nach Angaben des Asia Society Policy Institute mindestens 5000 Yuan (675 Franken) im Monat, in manchen Einrichtungen auch 20'000 Yuan.

«Ich sehe meinen Sohn oft nicht»

Viele Eltern sind auf die Unterstützung von Verwandten angewiesen, Grosseltern spielen in China traditionell eine wichtige Rolle bei der Kindererziehung. «Unsere Generation kann nur arbeiten gehen, weil wir die Grosseltern ausbeuten, die uns ein paar Jahre lang bei der Erziehung unserer Kinder helfen», sagt Nancy.

«In der Pandemie wurde unser Sohn hauptsächlich von seinen Grosseltern betreut», sagt Ivy Meng. Die Schule war geschlossen, sie und ihr Mann mussten dennoch in Vollzeit weiterarbeiten. Auch jetzt bleibt Meng kaum Zeit, sich um ihr Kind zu kümmern. «Ich komme jeden Abend sehr spät nach Hause und sehe meinen Sohn oft nicht. Ich mache eigentlich gar keine Erziehungsarbeit», sagt sie.

Meng schätzt sich aber noch glücklich – viele junge Chinesinnen bekämen keine Hilfe von der Grossfamilie. «Oftmals wollen ihre Ehemänner die Verantwortung für die Kindererziehung nicht übernehmen, und ihre Eltern oder Schwiegereltern sind nicht bereit zu helfen», sagt Meng.

«Das ist nichts, was man mit Geld lösen kann»

Nicht nur die Arbeitsbelastung in der harten chinesischen Unternehmenswelt erschwert die Familiengründung. Die gesellschaftlichen Erwartungen an die Kindererziehung sind extrem hoch. Durch die bis 2016 geltende Ein-Kind-Politik konzentrierten Eltern ihre Aufmerksamkeit auf dieses eine Kind und versuchten, dessen Erfolgschancen zu maximieren.

Auch dieser Ehrgeiz trage zum Geburtenrückgang bei, ist Nancy überzeugt. «Klar, wenn man seine Ansprüche etwas zurückschraubt, wird es vielleicht weniger anstrengend. Aber die meisten Leute erziehen ihre Kinder mit grosser Ernsthaftigkeit», sagt sie.

Nach Ansicht von Experten muss die Regierung junge Eltern finanziell deutlich entlasten. Nancy reicht das nicht. «Egal, wie viel die Regierung zahlt, ich würde dennoch nicht mehr Kinder haben wollen», sagt die Mutter. «Das ist nichts, was man mit Geld lösen kann.» (AFP/jmh)

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