Anwohner filmt Amokläufer von Hamburg
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Schüsse durchs Fenster:Anwohner filmt Amokläufer von Hamburg

Philipp F. (†35) erschiesst sieben Menschen – Psychologe ordnet ein
«Der Amoklauf war eine Verzweiflungstat»

Seit 40 Jahren hat Dieter Rohmann mit Sektenaussteigern zu tun, allein 300 von ihnen verliessen die Zeugen Jehovas. Für den deutschen Psychologen steht hinter dem Amoklauf in Hamburg-Alsterdorf eine unerträgliche seelische Belastung und grosse Einsamkeit.
Publiziert: 10.03.2023 um 17:58 Uhr
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Aktualisiert: 10.03.2023 um 20:12 Uhr
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Myrte MüllerAussenreporterin News

Es sind Bilder, wie man sie von anderen Amokläufen weltweit kennt: Am Donnerstagabend dringt ein Einzeltäter in das Gebäude der Zeugen Jehovas in Hamburg-Alsterdorf ein, Schüsse peitschen durch die Dunkelheit. Philipp F.* (†35) erschiesst sieben Menschen und schliesslich sich selbst.

Für den Diplom-Psychologen Dieter Rohmann (63) steckt hinter der Bluttat eine tiefe Verzweiflung, an der die Sekte eine Mitschuld tragen könnte. «Nach jetzigem Kenntnisstand hat hier ein sogenannter Gemeinschaftsentzug stattgefunden. So nennen die Zeugen Jehovas den Ausschluss eines Mitglieds aus der Glaubensgemeinschaft», erklärt der Münchner Sektenexperte. «Philipp F. ist offenbar in Ungnade gefallen. Er hatte wegen Corona wohl auch berufliche Schwierigkeiten.» Der junge Mann hatte offensichtlich keinen Halt mehr.

«Der Ausschluss heisst Verbannung für alle Zeiten»

Seit 40 Jahren hat Dieter Rohmann Einblick in die Welt der Zeugen Jehovas. Über 300 Aussteiger hat er seither betreut. «Wer Mitglied ist, darf keine Freundschaften zu anderen Menschen, also zu den – wie die Sekte sie nennt – Weltmenschen haben. Wird nun ein Mitglied ausgeschlossen, dann wird jede Verbindung zu Sektenmitgliedern abgebrochen». Auch die eigenen Eltern, Geschwister, Brüder und Schwestern im Geiste dürften keinen Kontakt mehr zum «Abtrünnigen» haben. Mit dem Ausschluss/Austritt sind die Betroffenen von der Gemeinschaft sozial geächtet.» Da sie keine sozialen Bindungen zu Menschen ausserhalb der Sekte haben, führe dies zu einer tiefen Einsamkeit, nicht selten zu Angstzuständen, Panik und Depressionen. «Sie befinden sich im freien Fall», sagt Dieter Rohmann.

Nach den Schüssen am Donnerstagabend stürmen schwer bewaffnete Polizisten den Tatort in Hamburg-Alsterdorf.
Foto: imago/Andre Lenthe
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«Sie fragen sich: Bin ich denn nie geliebt worden? Sie erkennen, dass die Sekte immer an erster Stelle stand.»
Psychologe Dieter Rohmann
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«Die Ausgeschlossenen werden zu Geächteten», so Rohmann weiter. Der Täter von Hamburg sei ein intelligenter, sehr frommer Mensch gewesen und wie die meisten Sektenmitglieder sicher auch ein Pazifist. Er muss seine Situation als derart ausweglos empfunden haben, dass er schliesslich zur Pistole griff. Als Sportschütze hatte er Zugang zu Schusswaffen. Die Katastrophe nahm ihren Lauf.

Ehemalige Sektenmitglieder haben oft grosse Selbstzweifel

Meist seien die Sektenaussteiger im Alter zwischen 20 und 35 Jahren, sagt Dieter Rohmann. Viele von ihnen sind mit ihren Familien in der Sekte aufgewachsen. «An einem Punkt hatten sie nach dem Ausstieg alle die gleiche Erfahrung: Das Gefühl von Wertlosigkeit. Sie fragen sich: Bin ich denn nie meiner selbst willen geliebt worden? Nie bedingungslos? War ich denn nie von Bedeutung? Sie erkennen, dass die Gemeinschaft und deren Ideologie immer an erster Stelle stand – und sie selbst schutzlos an zweiter». Das sei sehr, sehr schwer zu ertragen, sagt Dieter Rohmann..

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Aussteiger und Ausgeschlossene brauchen oft Hilfe: psychologische Begleitung, aber vor allem, so der Experte, den Austausch mit Leidensgenossen, «am besten in Selbsthilfe-Gruppen». Hätte man die Verzweiflung von Philipp F. erkannt und ihm früh genug eine Hand gereicht, wäre der Amoklauf von Hamburg-Alsterdorf möglicherweise nie passiert.

* Name bekannt

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