Brasiliens Volk in der Schweiz wählt für Heimatland mit
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Lange Wählerschlange in Zürich:Brasiliens Volk in der Schweiz wählt für Heimatland mit

Riesige Wählerschlange in Zürich
Lula will Bolsonaro aus dem Amt jagen

Vier Jahre lang war Jair Bolsonaro Präsident von Brasilien. Bei der Präsidentschaftswahl am Sonntag entscheidet sich, ob der rechte Staatschef an der Spitze des Landes bleibt. Auch in der Schweiz strömen Brasilianer in Scharen zur Botschaft, um ihre Stimme abzugeben.
Publiziert: 02.10.2022 um 16:20 Uhr
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Aktualisiert: 03.10.2022 um 09:56 Uhr

Im politisch tief gespaltenen Brasilien hat am Sonntag die Präsidentschaftswahl begonnen. Mehr als 156 Millionen Brasilianer und Brasilianerinnen waren dazu aufgerufen, bis 17 Uhr (22 Uhr MESZ) ihre Stimme abzugeben. Auch in der Schweiz strömen die brasilianischen Staatsbürger in Scharen zur brasilianischen Botschaft, um ihre Stimme abzugeben. Eine mehrere Hundert Meter lange Schlange habe sich vor der Juventus Schule in Zürich, wo Brasilianerinnen und Brasilianer im Auftrag der Botschaft ihre Stimme abgeben können, gebildet. «Ich habe zwei Stunden lang im Regen in der Schlange gestanden», sagt ein Blick-Leserreporter zu Blick.

Immerhin habe es nicht noch länger gedauert, so der Leserreporter aus Olten SO weiter. «Eine Kollegin von mir musste sich vier Stunden lang gedulden.» Der Solothurner habe für den noch amtierenden Präsidenten Jair Bolsonaro (67) gestimmt. «Ich war mit seiner Regierung bisher sehr zufrieden.» Nun hoffe er auf einen positiven Ausgang für seinen Favoriten.

Bolsonaro isolierte Brasiliens Volkswirtschaft

Während vier Jahren hielt der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro das Amt des Staatsoberhaupts inne. In den vier Jahren seiner Amtszeit hat der rechte Staatschef Bolsonaro die grösste Volkswirtschaft Lateinamerikas allerdings weitgehend isoliert. Er verbat sich Vorschläge zum Schutz des Regenwaldes, überraschte die internationale Gemeinschaft durch seine eigenwillige Corona-Politik und reiste kaum ins Ausland.

Am Sonntag findet in Brasliien die Präsidentschaftswahl statt.
Foto: AFP
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Ob Bolsonaro auch in Zukunft das Bild seines Landes in der Welt bestimmt, entscheidet sich nun am Sonntag bei der Präsidentschaftswahl. Mit ersten Ergebnissen ist in der Nacht auf Montag zu rechnen.

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«Bolsonaros Wirkung war toxisch»

«Durch Bolsonaro hat Brasilien sehr stark an Einfluss verloren», sagt der deutsch-brasilianische Politikwissenschaftler Oliver Stuenkel (40) von der Stiftung Getúlio Vargas der Deutschen Presse-Agentur. «Seine Wirkung war geradezu toxisch.» Dabei galt Brasilien lange als Meinungsführer in der Region, gab Lateinamerika im Schwellenländerclub Brics und bei den G20 eine Stimme.

Brasilien ist 24-mal so gross wie Deutschland und hat rund 210 Millionen Einwohner. Damit ist es der flächenmässig fünftgrösste und in Bezug auf die Bevölkerung sechstgrösste Staat der Erde. Aufgrund der schieren Grösse und der enormen natürlichen Ressourcen kommt Brasilien bei der internationalen Sicherheitspolitik, beim Welthandel und beim Klimaschutz eine wichtige Rolle zu.

Deshalb hat die Präsidentenwahl in Brasilien auch eine grosse Bedeutung für den Rest der Welt. Der linke Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (2003-2010) dürfte Bolsonaro laut Umfragen deutlich schlagen. Sollte im ersten Wahlgang keiner der Kandidaten mehr als 50 Prozent der Stimmen erhalten, treffen die beiden stärksten Bewerber am 30. Oktober ihn einer Stichwahl aufeinander.

Trump sicherte Bolsonaro seine Unterstützung zu

Die Wahl hat Brasilien extrem gespalten. Lula (76) nennt Bolsonaro wegen dessen zögerlicher Corona-Politik einen Völkermörder, Bolsonaro schimpft seinen Kontrahenten nach dessen Verurteilung wegen Korruption einen Dieb. Ähnlich wie der frühere US-Präsident Donald Trump (76), der in einem Video in der Nacht auf Sonntag seine Unterstützung für Bolsonaro erklärte, hat der Amtsinhaber bereits angedeutet, das Ergebnis möglicherweise nicht anzuerkennen.

Viele seiner Anhänger verfügen über Waffen und fordern einen Militärputsch. «Ob es nach der Wahl zu einer friedlichen Übergabe kommt, kann die Demokratie stärken oder schwächen», sagt Stuenkel. «Und das ist angesichts von Brasiliens Grösse wichtig für die Demokratie weltweit.»

Zwar war Lula in seinen ersten beiden Amtszeiten nicht gerade als Grüner bekannt, kündigte nun für den Fall seines Wahlsieges aber eine neue Umwelt- und Klimapolitik an. «Wir werden den illegalen Goldabbau beenden und sehr ernsthaft gegen die Abholzung kämpfen», sagte er. Beispielsweise könnte der Amazonien-Fonds zum Schutz des Regenwaldes, an dem auch Deutschland beteiligt ist, wiederbelebt werden.

Für Bolsonaro ist das Amazonasgebiet hingegen ungenutztes wirtschaftliches Potenzial. Er will noch mehr Flächen für Landwirtschaft, Bergbau und Energiegewinnung erschliessen. Derzeit toben in den Regenwäldern Brasiliens die schwersten Brände seit zwölf Jahren. «Jair Bolsonaros Politik ist wie Gift für den Amazonas. Er ist einer der grössten Kohlenstoffspeicher der Erde. Wird er weiter zerstört, können wir der fortschreitenden Klimakrise nur noch zugucken», sagt Roberto Maldonado von der Naturschutzorganisation WWF. «Die Brasilianer entscheiden bei der Wahl also neben ihrer eigenen Zukunft auch über die des Weltklimas.»

Globale Lage sei für Brasilien heutzutage schwierig

Bolsonaros Verweigerungshaltung beim Klimaschutz bremst auch die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Südamerika und Europa. Das Freihandelsabkommen zwischen dem südamerikanischen Staatenbund Mercosur und der EU liegt derzeit auf Eis – unter anderem auch deshalb, weil Kritiker in Europa befürchten, der Vertrag werde die Regenwaldzerstörung in Brasilien weiter befeuern. Angesichts steigender Energie- und Lebensmittelpreise in Europa könnte Brasilien aber in Zukunft ein interessanter Handelspartner werden.

«Egal ob Bolsonaro oder Lula die Wahl gewinnt, wir müssen unsere Handelsbeziehungen ändern. Bisher haben wir mit unseren Importen die Naturzerstörung in Brasilien gefördert», sagt WWF-Experte Maldonado. «Wo in Brasilien früher Regenwald war, wird heute unter anderem Soja angebaut. Das wird oft als Tierfutter nach Deutschland importiert.»

Nach Ansicht von Politikwissenschaftler Stuenkel könnte Brasilien seine aktive Rolle in der internationalen Politik wieder aufnehmen. «Ich bin nur ein Oppositionskandidat, aber in Deutschland werde ich vom Kanzler empfangen, in Frankreich von Präsident Macron, in Spanien von Präsident Sánchez», schrieb Lula am Samstagabend (Ortszeit) auf Twitter. «Der Weg für Brasilien wird mit meinem Sieg offen sein.»

Es sei allerdings ein Irrglaube, sagt Stuenkel, dass mit Lula automatisch auch die Diplomatie aus seinen frühen Amtszeiten von Anfang 2003 bis Ende 2010 wiederkehren würde – schliesslich ist der Multilateralismus angesichts von Protektionismus und Angriffskriegen zuletzt in die Defensive geraten. «Die globale Lage ist für Brasilien heute viel schwieriger als früher», sagt Stuenkel. (SDA)

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