Pragmatismus statt Reality TV
Mit Biden kommt der Anti-Trump

Donald Trump hat verloren. Gewinner Joe Biden will vor allem eines: die Ära seines Vorgängers in den Mülleimer der Geschichte werfen. Einfach wird das nicht.
Publiziert: 08.11.2020 um 12:07 Uhr
Der Sieger heisst Donald Trump (74) – jedenfalls in der Reality-TV-Welt des 45. US-Präsidenten, der seine Anwälte ausschwärmen lässt im Kampf gegen die Wirklichkeit.
Foto: keystone-sda.ch
1/17
Danny Schlumpf

Der Sieger heisst Donald Trump (74) – jedenfalls in der Reality-TV-Welt des 45. US-Präsidenten. Den Kampf gegen die wirkliche Wirklichkeit müssen jetzt seine Anwälte führen. Denn das Verdikt ist klar: Trump hat verloren. Der neue Präsident heisst Joe Biden (77).

Nur die Optik zählt

Und doch hat fast die Hälfte der Amerikaner für Trump gestimmt – zum zweiten Mal. Für Claudia Brühwiler (38), Amerikanistin an der Uni St. Gallen, ist das keine Über­raschung: «Wir stossen uns daran, dass Trump ein Spaltpilz ist und als Staatsoberhaupt versagte. Aber für seine Wähler zählt, dass er als ­Regierungschef viele Wahlversprechen eingelöst hat.» So zum Beispiel Deregulierungen und Steuersenkungen, aber vor ­allem eine ­rigorose Migrationspolitik. Dass die Trump-Mauer an der Grenze zu ­Mexiko unfertig blieb, spielt keine Rolle. Die Symbolik zählt.

«Trump hat immer wieder den ­unterschwelligen White Supremacism bedient», den Glauben an die Überlegenheit der Weissen, sagt Francis Cheneval (57), Professor für Politische Philosophie an der Uni ­Zürich. «Insofern ist er der letzte Vertreter des ungeteilten weissen Hegemonieanspruchs in den USA.»

Auch international strebte Trump in die Vergangenheit: Die Kündigung des Pariser Klimaabkommens – diese Woche offiziell vollzogen –, der Ausstieg aus dem Atom-Vertrag mit dem Iran, der angedrohte Austritt aus der Nato: Genau das habe Trump unter «America first» verstanden, sagt Bernd Stöver (59), Geschichtsprofessor an der Uni Potsdam und Verfasser des Standardwerks «Geschichte der USA». Seit Ende des Kalten Krieges fühlten sich die Amerikaner in die Ecke gedrängt, vor allem durch den Aufstieg Chinas. «Trump hat das weitverbreitete Gefühl, von den anderen Nationen ausgenutzt zu werden, mit Taten beantwortet», so Stöver.

Unzimperliche Rhetorik

Anderen Ländern warf der US-Präsident vor, die USA wirtschaftlich über den Tisch zu ziehen, und schlug mit gigantischen Strafzöllen um sich. Auch die Schweiz beschuldigte er, sein Land zu übervorteilen. Tatsächlich erzielte die Eidgenossenschaft im Handel mit den USA 2019 einen Rekordüberschuss von 28 Milliarden Franken. Viele Schweizer Firmen florieren dort: grosse Konzerne wie UBS, Roche und Novartis, aber auch Unter­nehmen wie der Kochgeschirr-Pro­duzent Kuhn Rikon.

Trotz Trumps Kritik hätten die beiden Schwesterrepubliken ein sehr gutes Verhältnis, sagt Alfred Mettler (61), Wirtschaftsprofessor an der Uni Miami und Verfasser des Buchs «Crazy Country USA». Das sei vor allem dem US-Botschafter in Bern zu verdanken: Ed McMullen (56) habe seinen Präsidenten ans WEF geholt und Aussenminister Mike Pompeo (56) nach Bern. «Und er war daran beteiligt, dass Ueli Maurer als erster Bundesrat ins Weisse Haus einge­laden ­wurde.»

Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.

Gute Beziehungen werde es auch nach Trump geben, sagt der ehemalige Staatssekretär und Botschafter Michael Ambühl (69), der 2010 bis 2013 im Steuerstreit mit den USA verhandelte und heute an der ETH als Professor für Verhandlungs- und Konfliktmanagement tätig ist. Der Trumpf der Schweiz seien Gute Dienste wie die für die USA im Iran. «Sie sind ein Türöffner für das Schweizer Aussenministerium», so Ambühl. Mit diesem Instrument könne sich die Eidgenossenschaft auch künftig die Aufmerksamkeit der US-Administration sichern – unabhängig davon, ob der Präsident Trump oder Biden heisse.

Doch wofür steht Joe Biden? Wird mit ihm nun alles anders?

«Biden ist in erster Linie ein Anti-Trump», sagt der Historiker Stöver. «In seinen Wahlkampfauftritten stand nicht ein Programm im Zen­trum, sondern die Art, wie er sich präsentierte – ausgewogen und moderat.» Konkrete Pläne des neuen Präsidenten sind erst in Umrissen bekannt. Doch die Richtung ist klar: Er will die Entwicklungen der Ära Trump so weit wie möglich rück­gängig machen. Im Kampf gegen Corona soll endlich die Wissenschaft zu Wort kommen. Biden will Testzentren schaffen und Gratistests zur Verfügung stellen. Die von seinem Vorgänger bekämpfte Gesundheitsreform «Obamacare» soll neue Schlagkraft erhalten. Biden will die Steuern wieder erhöhen und die aussenpolitische Isolation durchbrechen. Erster Schritt: die neuerliche Unterzeichnung des Pariser Klima-Abkommens.

Biden steht vor einem Scherbenhaufen

Vor allem aber muss der neue Präsident Amerikas Glaubwürdigkeit in der Welt wiederherstellen. Und im eigenen Land versöhnend wirken.

Das wird nicht einfach. Denn Biden steht vor dem gleichen Problem, das schon Trump zu schaffen machte: Auch in den nächsten vier Jahren ist der Kongress geteilt, denn der Senat bleibt wohl in republikanischer Hand. Dennoch könne der ehemalige Senator aus Delaware etwas bewirken, glaubt Amerikanistin Brühwiler. «Biden ist ein Übergangspräsident, aber keine Notlösung. Er ist sehr gut vernetzt im Senat und kann Brücken bauen.»

Es bleibt also alles anders. Mit einem fast 78-Jährigen als Prä­sidenten, der schon zweimal erfolglos für das Amt kandidierte. Als «Sleepy Joe» verhöhnte ihn sein Gegner Trump. Doch Bernd ­Stöver widerspricht. «Biden ist nicht schläfrig. Das ist Rhetorik, aber nicht die Realität.» Der kommende Präsident sei ein knorriger Typ, der auf die Menschen zu­gehe, sagt Claudia Brühwiler. «Dann blüht er auf und zeigt ­Charisma.»

Sie bezeichnet Biden als Pragmatiker aus der Mitte mit einem Gespür für den Zeitgeist. Brühwiler sagt aber auch: «Er ist kein Messias – auch wenn die Amerikaner auf einen warten.»

2008 sträubte Biden sich da­gegen, Barack Obamas (59) Vize zu werden. Doch seine bald da­rauf verstorbene Mutter sprach ihm ins Gewissen: «Du hast die Möglichkeit, dem ersten Afroamerikaner zur Präsidentschaft zu verhelfen und weigerst dich?» Der Sohn hörte auf sie. Und nun verhilft er mit Kamala Harris (56) der ersten Frau zu diesem Amt. «Das ist historisch», sagt Brühwiler. «Sie hat eine Vorbildfunktion, wie sie noch nie ein Vizepräsident hatte.»

Ihre Wahl war ein kluger Schritt. Auch Harris sei Teil des Anti-Trump-Konzepts der Demokraten, sagt Bernd Stöver. «Trump war der Macho, der Frauen nur als Beigabe in der Politik betrachtete. Kamala Harris ist die demokratische Antwort darauf.»

Die Strategie ist aufgegangen. Biden und Harris ziehen ins ­Weisse Haus.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?