Tunesischer Schlepper packt aus
«So bringe ich Tausende Flüchtlinge nach Europa»

Mehdi (37) bringt auch diesen Sommer wieder Tausende Landsleute illegal nach Europa. Blick trifft einen von Tunesiens erfolgreichsten Schleppern an einem geheimen Ort und erhält schockierende Einblicke ins Geschäft mit den verzweifelten Migranten.
Foto: Samuel Schumacher
Schlepper packt aus: So lukrativ ist das Geschäft mit Migranten in Tunesien
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Samuel SchumacherAusland-Reporter
Publiziert: 17.05.2024 um 00:10 Uhr
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Aktualisiert: 17.05.2024 um 10:29 Uhr

Mehdis* (37) Forderungen für ein Treffen mit Blick sind klar: keine Namen, keine Fotos und keine Details, die ihn verraten könnten. Auf dem Weg zum Interview an einem geheimen Ort in der Küstenmetropole Sfax (Tunesien) fahren wir auf sein Geheiss an jedem Kreisel mehrere Extra-Runden und biegen zweimal absichtlich falsch ab – um sicherzugehen, dass uns keine Polizisten folgen.

Mehdis Paranoia ist verständlich: Er ist einer von Tunesiens erfolgreichsten Schleppern. Wird er erwischt, wandert er für Jahrzehnte in den Knast. «Darauf habe ich keine Lust», sagt der hagere Typ mit den Snoopy-Socken und dem Stoppelbart. Die Kapuze seiner schwarzen Markenjacke hat er sich tief ins Gesicht gezogen. Das Geschäft blüht. Auch diesen Sommer wird er wieder Tausende seiner Landsleute in maroden Kuttern über das Mittelmeer nach Europa bringen.

Mehdis Heimat Sfax ist zur grössten Migranten-Drehscheibe Nordafrikas geworden, seit die Küstenwache im Nachbarland Libyen sich von Europa fürstlich dafür bezahlen lässt, Migrantenboote an der Abfahrt zu hindern (einen ähnlichen Deal liess Tunesien im letzten Herbst platzen). 53'086 Menschen sind seit Jahresbeginn laut der Internationalen Organisation für Migration schon übers Mittelmeer migriert, fast zwei Drittel von ihnen haben die Reise in Tunesien gestartet. Mehdi verrät, wie das tödliche Schlepper-Geschäft funktioniert – und warum er auf seinen Booten keine Schwarzafrikaner mehr mitnimmt.

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So bringt Schlepper Mehdi jährlich Tausende Tunesier illegal nach Europa

Hinter den Schlepperbooten, die von der tunesischen Küste aus in Richtung der italienischen Insel Lampedusa fahren, stecken Kleingruppen von fünf bis sechs Leuten. «Wir kaufen alte Boote von Fischern oder bauen in unseren Werkstätten selber welche zusammen», erklärt Mehdi. Ganz wichtig für die Schlepper: Die Seriennummer wird von den Motoren entfernt, damit die italienische Polizei später nicht nachverfolgen kann, woher die Boote genau kommen.

Die Küstengegend rund um die Stadt Sfax ist übersät mit den rostigen Resten angespülter Stahlboote, mit denen die Schlepper ihre verzweifelte Kundschaft übers Meer bringen lassen.
Foto: Samuel Schumacher

Ist das Boot bereit, bringt Mehdi via einen Kontaktmann 15 bis 20 Fluchtwillige in eines seiner Verstecke, oft ein leer stehendes Haus an der Küste, wo sie bis zur Abfahrt rundum versorgt werden. Den Kontakt zwischen Kunden und Schlepper stellen gut vernetzte Späher her. Sie fragen herum, führen Wartelisten, wissen genau Bescheid, wer gehen will und das entsprechende Bargeld dafür hat.

«Früher fuhren wir mit grösseren Booten mit bis zu 150 Leuten los. Aber die werden vom Radar sofort erkannt. Mit den kleineren Booten bleiben wir unentdeckt», erklärt Mehdi. Stimmt das Wetter und ist die Luft rein, werden die Kunden an einen der Abfahrtspunkte an der Küste gebracht.

Ein Captain, meist ein tunesischer Fischer, steuert das Boot auf der zwölfstündigen Überfahrt ins 186 Kilometer entfernte Lampedusa. Sobald die italienische Küstenwache das Boot entdeckt, stellt der Kapitän den Motor ab und tarnt sich als normaler Flüchtling. «Würde er auffliegen, käme er für mindestens sechs Jahre ins Gefängnis», sagt Mehdi. Nach ein paar Wochen im Migranten-Auffanglager auf Lampedusa melden sich die Kapitäne für die freiwillige Rückkehr und werden nach Tunesien zurückgebracht. «Ich bezahle den Kapitänen pro Überfahrt 15'000 bis 20'000 Dinar» – 4500 bis 5500 Franken.

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So teuer ist eine illegale Meeresüberquerung 2024

Für einen Tunesier kostet die Überfahrt (oder «harka», wie die Einheimischen sagen) diesen Sommer 6000 bis 7000 Dinar (1700 bis 2000 Franken). «Das Risiko ist grösser als früher, die Küstenwache kontrolliert strenger, die Strafen für Schlepper sind härter. Deshalb steigen die Preise», erklärt der Schlepper. Vor fünf Jahren war die Überfahrt noch halb so teuer.

Schlepper spricht über das Millionengeschäft
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Schlepper in Tunesien:Ein lukratives Millionengeschäft

Für Mehdi lohnt sich das Geschäft. «Ich arbeite drei Monate von Juni bis August, das reicht.» Rund 75'000 Franken verdient der Schlepper in dieser Zeit – in einem Land mit einem Durchschnittslohn von weniger als 300 Franken pro Monat. Nebst den Ausgaben für die Schiffe, die Unterbringung und Versorgung der Fluchtwilligen und die Bezahlung seiner Helfer stehen auch die Schmiergelder an Polizisten und Küstenwächter auf der Kostenseite.

Die Distanz zwischen Tunesiens Küste und der italienischen Insel Lampedusa beträgt rund 186 Kilometer. Zwölf Stunden brauchen erfahrene Schlepper-Kapitäne dafür.
Foto: Samuel Schumacher

Schätzungsweise 200 Schlepper sind in Tunesien aktiv, die allermeisten davon in Sfax. Das Schleppertum ist ein Multi-Millionen-Geschäft.

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So hat sich der Kundenstamm der Schlepper verändert

Seit acht Jahren ist Mehdi als Schlepper tätig. «Schwarzafrikaner nehme ich keine mehr mit. Die organisieren sich jetzt selbst mit eigenen Schleppern, weil wir kein Risiko mehr eingehen wollen.» Der Grund: Bei einem Boot voller Afrikaner mit einem Tunesier ist sofort klar, wer der Kapitän ist. Ein zu hohes Risiko für die Schlepper-Banden. Mehdi bleibt aber auch mit den Schwarzafrikanern im Geschäft. «Wir verkaufen ihnen Bootsteile und Motoren.» Eine Zweiklassengesellschaft – selbst auf den Flüchtlingsbooten im Mittelmeer.

Mit schwarzafrikanischen Flüchtlingen arbeiten nur noch die wenigsten tunesischen Schlepper zusammen.
Foto: Samuel Schumacher

Auch seine tunesischen und maghrebinischen Kunden haben sich stark verändert. «Vor ein paar Jahren wagten sich fast ausschliesslich junge Männer auf die ‹harka›. Heute kommen ganze Familien, Frauen, kleine Kinder und letzthin sogar ein 70-jähriger Pensionär», erzählt Mehdi. «Alle wollen weg, sogar die Alten.»

Mehdi behauptet, er nehme auf seinen Booten grundsätzlich alle mit, die zahlten – ausser schwangere Frauen und Kinder. «Ich will sie diesem Risiko nicht aussetzen.»

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Deshalb wollen so viele Tunesier ihr Heimatland verlassen

17'972 Tunesier haben 2023 das Mittelmeer überquert. Seit Jahren rangiert das Land europaweit in den Top Ten der Flüchtlingsherkunftsländer. Einerseits wegen der politischen Notlage: Das Tourismus-Traumland war nach dem Ausbruch des Arabischen Frühlings auf gutem Weg, zu einer Demokratie zu werden. Im Juli 2021 aber liess Präsident Kais Saied (66) den Ausnahmezustand verhängen und regiert seither autokratisch.

Andererseits wegen der wirtschaftlichen Misere: Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über 40 Prozent, die Preise für Nahrungsmittel schiessen in die Höhe (ausser für das staatlich subventionierte Brot: Eine Parisette kostet umgerechnet nur rund 6 Rappen!). Grundnahrungsmittel wie Zucker oder Reis fehlen teils wochenlang. Der Tourismus kommt nach mehreren Terroranschlägen und der Corona-Pandemie nur schleppend wieder in Gang.

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So gefährlich ist die Überfahrt für die Migranten

Mehdi behauptet, manche seiner Boote seien zwar schon von der tunesischen Küstenwache gestoppt und zurückgebracht worden. «Untergegangen ist aber noch keines. Das könnte ich mir nicht leisten. Die Angehörigen der Ertrunkenen würden mich auffliegen lassen und ich sässe lebenslänglich.»

All seine Kunden erhielten von ihm eine Schwimmweste, behauptet er. Ob die immer helfen? 1027 Menschen sind alleine dieses Jahr schon auf der Flucht übers Mittelmeer laut der Internationalen Organisation für Migration ertrunken. 2023 kamen mindestens 4064 Menschen bei der Überfahrt ums Leben, 1100 mehr als noch im Vorjahr.

Am Hafen von Sfax stapeln sich die Überreste jener Boote, die es nicht ans Ziel geschafft haben und die es wieder an die tunesische Küste gespült hat.
Foto: Samuel Schumacher

Mehdi kennt diese Zahlen. «Ich will meinen Landsleuten nur helfen, ihren Traum zu verwirklichen», sagt er. Ein schlechtes Gewissen habe er nicht. Er, der Schlepper, sieht sich als Dienstleister im Auftrag des leidenden Volkes.

Vor acht Jahren, als er seine allererste «harka» für sieben seiner Freunde organisiert hatte, glaubte er noch an eine Zukunft in seinem Land. «Jetzt aber denke auch ich daran, zu gehen», sagt Mehdi. «Ich möchte in die Schweiz, da habe ich Bekannte.» Am liebsten ginge er mit einem Arbeitsvertrag in den Händen. Und wenn das nicht klappt, dann weiss er ja, wo er sich für die «harka» melden muss.

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