Top-Stratege warnt davor, die russische Armee zu unterschätzen
«Die bittere Wahrheit ist: Putin kann den Krieg gewinnen»

Russland scheint mit seiner Invasion der Ukraine kaum vorwärtszukommen. Doch der Schein könnte trügen. Denn laut Markus Reisner, Österreichs Top-Militärstrategen, steht es um die Ukraine viel schlechter, als man im Westen glaubt.
Publiziert: 04.05.2022 um 13:33 Uhr
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Aktualisiert: 16.04.2023 um 03:37 Uhr

Putins Panzer kommen nicht vorwärts, russische Soldaten ergeben sich, bald kann sich Russland den Krieg nicht mehr leisten. Immer wieder werden Pannen beim russischen Militär bekannt. Fast scheint es so, als ob die Ukraine den Krieg gewinnen könne. Doch der Eindruck könnte gewaltig täuschen.

Russland ist wohl viel stärker, als man hierzulande glaubt. Davon ist zumindest der österreichische Oberst und Top-Militärstratege Markus Reisner überzeugt: «Wir brauchen ein objektives Lagebild. Es hilft uns nichts, wenn wir uns schönreden, dass die russischen Angreifer sich in einem schlechten Zustand befinden», erklärt er in der «Welt». «Denn das täuscht darüber hinweg, wie die Lage wirklich ist.»

Reisner erwartet in den nächsten zwei bis drei Wochen weitere Eskalationen im Donbass. Diese Kämpfe werden ihm zufolge besonders heftig werden, «weil die Russen jetzt versuchen, eine Entscheidung herbeizuführen».

Die russischen Truppen sind wohl viel stärker, als man im Westen glaubt.
Foto: keystone-sda.ch
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«Die Ukraine braucht dringend neue Waffen»

Die Ukrainer könnten sich unter anderem mit amerikanischen Drohnen wehren. Doch laut dem Militärstrategen wird das kaum reichen.

«Die Ukraine braucht dringend neue Waffen. Die Waffenlieferungen aus dem Westen sind jetzt ein Wettlauf gegen die Zeit», glaubt Reisner. Denn die westlichen Lieferungen von schweren Waffen hätten zu spät begonnen. Und ausserdem würde Russland einen «nicht unwesentlichen Teil» der Waffenlieferungen erbeuten oder vernichten.

Mittlerweile habe der Kreml sogar Handbücher veröffentlicht, in denen steht, wie man die erbeuteten Waffen bedienen und gegen die Ukraine einsetzen kann. «Und das ist auch schon passiert», so der Militär-Experte. «Nach US-Angaben werden die Waffen, die der Westen innerhalb einer Woche in die Ukraine bringt, innerhalb eines Tages verbraucht, also sofort von den Ukrainern genutzt oder aber von den Russen erbeutet oder vernichtet.»

«Jetzt sind die Russen vorbereitet»

Reisner zufolge will Russland im Donbass nun zwei Zangen in der Höhe von Isjum und Donezk bilden, um die ukrainischen Truppen einzukesseln. «Das Problem ist, dass die Stellungen der Ukrainer in diesem Raum nicht so stark sind wie an der alten Kontaktlinie, also im Osten von Kramatorsk», befürchtet der Österreicher.

Früher hatte die Ukraine auch Erfolg damit, mit Spezialeinheiten russische Soldaten aus dem Hinterhalt anzugreifen. Doch diese Taktik geht jetzt wohl nicht mehr auf. Reisner: «Das hatte in den ersten sechs Wochen anderswo geklappt, aber jetzt sind die Russen vorbereitet, und die russischen Spezialkräfte (Speznas) jagen die ukrainischen Spezialkräfte und vernichten sie leider recht häufig.»

Auch vom langsamen Voranschreiten der Russen soll man sich laut Markus Reisner nicht täuschen lassen. Die Russen rücken jetzt nämlich «langsam, breit und mit massiver Infanterieunterstützung vor, wobei die Panzer rechts und links durch weitere Panzerzüge abgesichert werden.» So schaffen die Angreifer zwar nur etwa 1,5 Kilometer pro Stunde, können aber verhindern, in einen Hinterhalt zu geraten.

Der gesamte Süden soll eingenommen werden

Reisner warnt deshalb davor, die russische Armee zu unterschätzen. «Wir sollten nicht den Fehler machen, die Langsamkeit des Vormarsches als Schwäche auszulegen. Das ist genau so gewollt. Das kann Wochen dauern.»

Dass der Krieg in der Ukraine demnächst beendet werden könnte, glaubt der Top-Stratege somit nicht. Ihm zufolge will Russland in neuen Kämpfen den gesamten Süden einnehmen, um die Ukraine vom wichtigen Meereszugang abzuschneiden.

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Abschliessend zieht Markus Reisner ein düsteres Fazit zur Lage in der Ukraine: «Die bittere Wahrheit ist: Putin kann den Krieg gewinnen.» Der Österreicher konkretisiert: «Gewinnen heisst, dass Putin nach diesem Waffengang substanziell mehr von der Ukraine besitzt als vorher.» (obf)

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