Taktikwechsel an der Front
Warum die Ukrainer jetzt Schaufeln in der Hand haben

Putins Truppen haben in den vergangenen Wochen langsam die Initiative an der Front ergriffen. Doch das könnte erst der Anfang sein. Die Anzeichen für eine grössere russische Offensive verdichten sich. Die Ukrainer sind noch nicht bereit dafür.
Publiziert: 08.03.2024 um 17:33 Uhr
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Marian NadlerRedaktor News

Das Blatt in der Ukraine hat sich gewendet. Während die ukrainischen Streitkräfte im vergangenen Jahr noch eine Offensive starteten, sehen sie sich heute in die Defensive gezwungen. Die ukrainische Gegenoffensive 2023 war nicht so erfolgreich wie erwartet, jetzt ergreifen die Russen die Initiative.

Die Truppen von Kreml-Chef Wladimir Putin (71) lauern. «Was gerade passiert, ist das, worauf sich Russland lange vorbereitet hat. Sie haben genug Kräfte und Ressourcen gesammelt, um mehrere Achsen gleichzeitig unter Druck zu setzen», zitiert das «Wall Street Journal» den stellvertretenden Kommandanten der 3. Angriffsbrigade der Ukraine, Maksim Zhorin.

Die ukrainischen Streitkräfte finden sich immer öfter in der Defensive wieder.
Foto: Anadolu via Getty Images
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Die Brigade geniesst einen guten Ruf, war an der Verteidigung der Stadt Awdijiwka beteiligt, musste sich im vergangenen Monat allerdings zurückziehen. Für Zhorin ist klar: Es wird eine russische Frühlingsoffensive geben.

Bagger heben Schützengräben aus

Darauf bereitet sich die Ukraine jetzt vor. «Nach dem Unvermögen der ukrainischen Streitkräfte, mit der eigenen Offensive den Frontverlauf zu verändern und russisch besetzte Gebiete zu erobern, ist das Land auf die Strategie der ‹aktiven Verteidigung› umgeschwenkt», sagt der österreichische Russland-Experte Gerhard Mangott (57) zu Blick. Der Plan: Die Verteidigungslinien ausbauen, um die Russen aufzuhalten. 

Westlich von Awdijiwka heben Bagger, die man eher von Baustellen statt von Schlachtfeldern kennt, Schützengräben aus. Die Ukrainer versuchen, die Hindernisse nachzuahmen, die Russland vor mehr als einem Jahr geschaffen hat, um die Offensive der Ukrainer im vergangenen Sommer zu vereiteln. An anderer Stelle müssen Soldaten die Schützengräben unter Beschuss ausheben, erzählt Zhorin. 

Zu spät mit dem Ausbau der Verteidigung begonnen

Seit November läuft die Kampagne zum Bau eines ausgedehnten Netzes von Befestigungen. «An allen wichtigen Fronten müssen wir uns engagieren und das Bautempo beschleunigen», sagte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (46) damals. «Die Priorität liegt auf der Hand.»

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Für Mangott und andere Experten ist klar: Die Ukraine hat zu spät angefangen, eine gute Verteidigung aufzubauen. Material- und Personalmangel verschlimmern die Situation. Besonders bei der Front in der Region Donzek sei das gut zu sehen, erklärt der Russland-Experte. Putins Truppen konnten die Stadt Awdijiwka erobern und dringen immer weiter vor. 

Der Ukraine läuft die Zeit davon

Als die ukrainischen Streitkräfte im vergangenen Sommer ihre Offensive starteten, gerieten sie schnell in ein komplexes Netzwerk von Hindernissen, das Russland über Monate hinweg vorbereitet hatte. Der Hauptverteidigungsgürtel bestand aus vielschichtigen Schützen- und Panzergräben, Betonblöcken und ausgedehnten Minenfeldern, die kaum zu durchqueren waren. Die ukrainische Verteidigung sei dagegen lückenhaft, behauptet ein hochrangiger Nato-Vertreter im «Wall Street Journal»-Bericht. 

In den vergangenen Wochen machten Putins Truppen Fortschritte. Sie dringen im Osten der Ukraine vor und werfen dabei Tausende von Männer in den Kampf, um die ukrainische Armee zurückzudrängen. Dabei lassen sie den Ukrainern kaum Zeit, robuste Verteidigungslinien zu errichten. Bei jedem russischen Vorstoss müssen sie sich auf oft unzureichend vorbereitete Positionen zurückziehen.

Strategische Rückzüge gehören zu den schwierigsten Kampfmanövern. Gleichzeitig die vorrückenden Gegner zu bekämpfen und die eigenen Stellungen zu sichern, ist selbst für erfahrene Militärs eine Herausforderung. Von ihnen hat die Ukraine nicht genügend. Viele der am besten ausgebildeten Truppen des Landes wurden in den vergangenen zwei Jahren getötet.

Können die Ukrainer Putins Truppen aufhalten?

Mykola Bieliskow, Experte vom ukrainischen Nationalen Institut für strategische Studien, geht zwar nicht von einer russischen Frühlingsoffensive aus, sagt aber: «Sie bereiten den Grundstein für einen grossen Vorstoss in der zweiten Hälfte dieses Jahres.» Die einzige Hoffnung der Kämpfer an der Front: Vielleicht gelingt es ihnen, die Russen lange genug aufzuhalten, bis sich ihr Vormarsch verlangsamt. So wie es den Russen im vergangenen Jahr gelungen war.

Dafür brauche es aber dringend Unterstützung aus dem Westen. Russland-Experte Mangott: «Die Ukraine braucht vor allem Artilleriegeschosse, Luftabwehrsysteme und weitreichende Raketen oder Marschflugkörper.»

Dass die Ukraine dieses Jahr nochmals in die Offensive geht und versuchen wird, Gebiete zu erobern, glaubt Mangott nicht. «In diesem Jahr wird die Ukraine aller Voraussicht nach in Verteidigungsstellung bleiben. Russland wird dieses Jahr die Offensivaktionen verstärken und profitiert dabei von einer eklatanten Unterversorgung der ukrainischen Armee.»

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