Marine Le Pen so nah am Sieg wie noch nie
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Frankreich wählt:Marine Le Pen so nah am Sieg wie noch nie

SonntagsBlick unterwegs mit Wahlkämpfern in Paris
Ein Rennen mit offenem Ausgang

Liberal, rechts- oder linksradikal – wie entscheiden Frankreichs Wähler in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl?
Publiziert: 09.04.2022 um 17:30 Uhr
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Aktualisiert: 09.04.2022 um 21:02 Uhr
Camille Kündig

«Attention, police!», warnt Thomas, den Klebstoffeimer in der einen, einen Tapetenpinsel in der anderen Hand. Mittwochabend, 22 Uhr, im mondänen Pariser Stadtteil Le Marais.

«Mission réussie»: Vom Schaufenster einer Boutique strahlt das Porträt des linksradikalen Urgesteins Jean-Luc Mélenchon. Rasch das Material zusammenpacken und weg, bevor die Staatsgewalt einschreiten kann!

Anhänger des Ex-Sozialisten plakatieren Pariser Strassen mit Werbung für den Kandidaten von La France insoumise. «Dieses Mal könnte Mélenchon es schaffen!», meint der 35-jährige Informatiker mit Begeisterung in der Stimme.

Favorit Emmanuel Macron muss doch noch zittern: Sein Vorsprung auf Le Pen schmilzt.
Foto: AFP
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Zerstückelte Linke

Wenige Gehminuten vom Centre Pompidou kämpfen die Aktivisten für die Abschaffung der Fünften Republik. Patricia Paul erklärt: «Wir plakatieren seit Wochen jeden zweiten Tag.» Statt Soziologie zu unterrichten, bepinselt die 64-Jährige nun eine Wand.

Die französische Linke ist zerstückelt. 41 Jahre nach Mitterrands Sieg liegen die Sozialisten am Boden. Der frühere Trotzkist Mélenchon profiliert sich als ihr einziger Hoffnungsträger: «Nous sommes fachés mais pas facho» (wir sind wütend, aber nicht faschistisch), donnert sein Hologramm an einer Wahlveranstaltung – eine Spezialität Mélenchons. Die Menge in Trappes, einer heiklen Banlieue südwestlich von Paris, bebt.

Patricia Paul fürchtet sich nicht davor, dass der bekennende Anhänger des verstorbenen venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez die Wahl gewinnen könnte: «Schluss mit dem Neoliberalismus, unsere Gesellschaft braucht tiefgreifende Veränderungen. Mélenchon darf ruhig noch weiter gehen!»

Pechsträhne für Valérie Pécresse

Für Mylèna Gourdon hingegen wäre der Linksradikale im Élysée ein Schreckensszenario. Die 18-jährige Studentin marschiert zielsicher über die Champs in Richtung Élysée, sinnbildlich für den Kurs, den sie sich für Valérie Pécresse (54) erhofft, die Kandidatin der Républicains: «Sie steht für die Urwerte der Rechten ein, eine starke Identität Frankreichs, Sicherheit und sie setzt sich gegen lasche Strafen ein.» Pécresse, Vorsteherin der Hauptstadtregion Île-de-France, gilt als Mischung aus Merkel und Thatcher: «Sie hat mich inspiriert, mich politisch zu engagieren, und wer weiss, vielleicht eines Tages ebenfalls für das oberste Amt zu kandidieren», sagt die Politologie-Studentin. «Sie ist ein Vorbild für viele Frauen.» Doch nachdem Pécresse nach ihrem Sieg bei den Vorwahlen der Républicains eine Favoritenrolle einnahm, sackten die Umfrageergebnisse in den Keller.

Auf eine Pechsträhne folgt die nächste. Zuerst eine hölzerne Rede, dann verweigerte ihr Nicolas Sarkozy (67) seine Unterstützung, zuletzt infizierte sie sich mit Covid. Mylèna Gourdon bleibt zuversichtlich. Vor dem Palais angekommen, sagt sie: «Valérie braucht keinen Mann der Vergangenheit als Beistand!» Umfragen hätten sich in der Vergangenheit mehrfach geirrt. Macron als Alternative? «Nein, er führt Frankreich wie eine Firma.»

Das sagen die Umfragen

26,5 Prozent: Emmanuel Macron führt die Umfragen an.

23,0 Prozent: Doch Marine Le Pen ist so stark wie nie.

16,5 Prozent: Jean-Luc Mélenchon ist der Hoffnungsträger der Linken.

26,5 Prozent: Emmanuel Macron führt die Umfragen an.

23,0 Prozent: Doch Marine Le Pen ist so stark wie nie.

16,5 Prozent: Jean-Luc Mélenchon ist der Hoffnungsträger der Linken.

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An der U-Bahn-Station Montparnasse verteilen Anhänger des einstigen Politjournalisten Éric Zemmour Flugblätter. «Fachos», schreit eine Passantin: Faschisten! Sicher ist, mit dem Polemiker rutschte die Grande Nation nach rechts wie nie. Zemmour avancierte im Sommer zum neuen Liebling der extremen Rechten. Im Herbst galt er als wichtigster Herausforderer Macrons. Im Gespräch mit SonntagsBlick bekundete er damals seine Sympathie für die SVP und nannte die Schweiz «Vorbild der Vernunft». Dann manövrierte der 63-Jährige sich und seine Partei Reconquête mit Geschichtsklitterungen und absurden Massnahmen ins Abseits. Das Logo des Bonaparte-Verehrers ist ein Z. Mitten im Ukraine-Krieg kommt das nicht gut an.

Le Pen ist Macron dicht auf den Fersen

Die Dynamik ist gebrochen, doch die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt: «Zwischen dem, was die Umfragen besagen, und dem, was wir auf dem Terrain erleben, liegen Welten», sagt Nicolas Rivard, Reconquête-Sprecher in der Schweiz. Seine Nische eroberte sich nun die nationalistische Urkandidatin Marine Le Pen zurück. Sie ist Macron abermals dicht auf den Fersen, das desaströse Fernsehduell 2017 scheint fast vergessen.

Rue Michel-Ange, fünf Autominuten von den grössten Fernsehstudios entfernt: Regionalrat Philippe Ballard empfängt am Sitz ihrer Partei Rassemblement National (RN). «Wir haben eine Revanche vor uns – dieses Mal hat Marine grosse Chancen», sagt Ballard und tippt auf das Wahlplakat mit dem Slogan «Libertés» (Freiheiten) hinter ihm.

Der einstige Starmoderator stellte sich für das RN zur Wahl: «Ich verfolgte, wie die sogenannte glückliche Globalisierung Millionen Franzosen in die Armut trieb.» In ihrem dritten Versuch, Frankreich zu präsidieren, hat Le Pen ihre Kampagne auf die schwindende Kaufkraft konzentriert. «Es geht darum, den Franzosen ihr Land und ihr Geld zurückzugeben», so Ballard. Marine als «Anwältin der kleinen Leute». Den Namen ihres extremistischen Vaters Jean-Marie Le Pen (93) sucht man auf dem Plakat vergeblich, die Entdiabolisierung der Partei ist in vollem Gange. Dabei war auch Zemmour nützlich. Während er vom grossen Bevölkerungsaustausch sprach, inszenierte sich Marine Le Pen regelmässig als Katzenmami im Pastellanzug.

Finanzierung durch russische Banken

2017 fanden 62 Prozent der Franzosen die Kandidatin unsympathisch, heute sind es nur noch 50 Prozent. Die 53-Jährige politisiert allerdings weiter getreu der Parteilinie europa- und fremdenfeindlich. Ins Stolpern brachten sie Lobhudeleien für Wladimir Putin (69) und die Finanzierung ihrer Partei durch russische Banken.

Mit dieser Präsidentschaftswahl entscheiden die Franzosen somit auch über die Zukunft der EU – und den Grad der Geschlossenheit des Westens gegenüber Putin. Le Pen hat bei Wahlen oft schlechter abgeschnitten als zuvor in Umfragen, erinnern Anhänger von Macrons Bewegung La République en Marche später am Abend in einer Schule des 17. Arrondissements. Nervosität liegt in der Luft. Dem Präsidenten schien die Wiederwahl vor wenigen Wochen fast schon sicher. Wegen der Kontroverse über den massiven Einsatz von Beratungsunternehmen durch seine Regierung muss er nun aber zittern. Könnte das alles verändern? «Dieser Vorwurf ist ein Witz», sagt Paul Bardon (22), während er «Emmanuel Macron avec vous» an eine Leinwand pinnt. «Er unterstützt humanistische Werte, ist offen und progressiv.»

Polit-Student Bardon verantwortet die Wahlveranstaltungen im Quartier. Nach zwei Jahren Pandemie präsentiert er heute Abend dessen Gesundheitspolitik. Ein Dutzend Anhänger Macrons und weitere Interessenten sind erschienen.

Macron hält eine Art Super Bowl der Politik

«Dass Altersheime profitorientiert geführt werden, geht einfach nicht», unterbricht eine Besucherin enerviert den Vortrag. Sachlich, unaufgeregt, mit Pariser Flair und einer Prise Belehrung steigen die Verfechter Macrons in die Debatte ein – die nahezu perfekte Verkörperung der Handschrift der präsidentiellen Mehrheit.

Letztes Wochenende hielt Macron als Meeting eine Art Super Bowl der Politik mit feuerspeienden Anlagen und einer hollywoodreifen Liebeserklärung an Brigitte (68), seine Gattin. Nebenbei lieferte er auf Youtube wöchentlich Einblicke in die Hintergründe seiner Kampagne.

Während seiner fünfjährigen Regierungszeit fuhr er politisch eher auf der rechten Schiene. Auch für sein aktuelles Programm scheint er sich von Pécresses Wahlprogramm inspirieren zu lassen. Ob ihm damit eine Abwahl erspart bleibt? Ein Grossteil der Bevölkerung fühlt sich von ihm ignoriert und politisch inexistent.

«Nur abgehobene Intellektuelle»

Aufstieg zum Grand Palais. Hier schuftet der obdachlose (Polit)-Twitterer Chris Page. Er hat 30'000 Follower, verfasste einst eine Kolumne der Tageszeitung «Libération» und saniert das Ausstellungsgebäude. Auf dem Polit-Parkett vertreten fühlt er sich schon lange nicht mehr. «Statt normaler Franzosen, die einer normalen Arbeit nachgehen, kandidieren nur abgehobene Intellektuelle.»

Wen die Franzosen heute in die Stichwahl vom 24. April schicken, wird sich am frühen Abend herauskristallisieren. Es zeichnet sich ein Duell ab, wie sie es schon gesehen haben. Nur könnte der Ausgang diesmal ein anderer sein.

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