So bereitet sich Kiew vor – SonntagsBlick vor Ort
Krieg im Kopf

In den Strassen Kiews scheint die akute Kriegsgefahr in der Ostukraine weit weg zu sein. Doch im Grossraum der Hauptstadt leben fast fünfzigtausend Veteranen. Wir haben zwei von ihnen besucht.
Publiziert: 22.01.2022 um 12:37 Uhr
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Aktualisiert: 27.02.2022 um 20:33 Uhr
Lea Ernst

Im Kiewer Stadtzentrum isst Anastasiia Schewtschenko (28) Rührei auf Toast zu Abend. Durchdringender Blick, kurzgeschorene Haare, sie lacht über eine Instagram-Nachricht von einem Freund. In ihrer Musik rechnet sie mit ihrem Feind ab. «Schlafe, und du wirst für immer ertrinken in deinen Träumen», singt sie in «Lullaby for the Enemy». Ein Wiegenlied für Russland. Denn Schewtschenko ist Veteranin.

Vor dem Restaurant ziehen Jugendliche in angesagten Schlaghosen und Bikerstiefeln durch die verschneiten Gassen. Aus der Oper schlendern ältere Paare nach Hause, ihre Ohren warm verborgen unter Uschankas, den Pelzmützen mit Ohrenklappen. In der Hauptstadt liegt der Krieg in der Ukraine in weiter Ferne, könnte man meinen. Wären da nicht diejenigen, die zurückgekehrt sind.

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In der Hauptstadt geht das Leben weiter

«Ich bemitleide dich dafür, dass du diesen Weg gewählt hast, der dich in den sicheren Tod führen wird», besingt Schewtschenko, die sich als Musikerin «Ctacik» nennt, ihren Feind. Sie war 21, als sie 2014 in den Donbass ging. Zwei Jahre lang arbeitete sie dort an der Kriegsfront, leistete in einer Miliz erste Hilfe. Nur ungern spricht sie über das, was sie dort erlebt hat. Heute erhalte sie die psychologische Unterstützung, die sie brauche.

In der ukrainischen Hauptstadt Kiew scheint die akute Kriegsgefahr im Osten des Landes auf den ersten Blick in weiter Ferne zu liegen. (Bild: Blick auf das Kiewer Höhlenkloster)
Foto: Lea Ernst
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Im Musikvideo ihres Wiegenliedes schreit Schewtschenko vor Schmerz. Krümmt sich im weissen Nachthemd auf schwarzer Donbass-Kohle. Mit dem Lied wollte sie gegenüber möglichst vielen Leuten etwas aussagen: «Nämlich, wie unglaublich bemitleidenswert und traurig das Leben des Feindes sein muss, damit er hierherkommt und den Tod in unser Land bringt.» Sie spricht bestimmt, doch fast schon sanft.

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Schewtschenko trägt gerne Wyschywanka, die traditionell ukrainischen Stickereien. Sie verehrt die Technoszene und die rattengrauen Plattenbauten ihrer Hauptstadt ebenso sehr wie die Volksmusik. Obwohl sie jeden einzelnen Tag an den Krieg denkt, fühlt sie ihn in Kiew nicht. «Hier geht das Leben weiter», sagt sie lächelnd über ihre Stadt, die irgendwo eingeklemmt ist zwischen Ost und West, zwischen Krieg und Frieden.

Kirchen, Deutschrap und Granaten

Zwei Strassen weiter reihen sich in der tausendjährigen Stadt prachtvolle Kirchen an Klöster und die Kathedrale. In einer Seitengasse hört der Taxifahrer laut Deutschrap, «Haftbefehl», im Trinkerkiosk herrscht Gedränge. Von den klassizistischen Fassaden der Hauptstrasse Chreschtschatyk blinken Namen grosser Modelabels in lateinischer und kyrillischer Schrift. Der Abendverkauf ist in vollem Gang, während im Osten die Granaten fallen.

Auf dem Majdan Nesaleschnosti schiessen die Touristen Selfies. Der Platz der Unabhängigkeit, so imposant, dass einem der Atem stockt. Vertrocknete Rosen und vergilbte Fotos erinnern hier an den Februar vor acht Jahren, als sich der Schnee vom Blut rot färbte und der Platz in Flammen stand. Als Häuser niederbrannten und im Kugelhagel Menschen starben. Für eine neue Ukraine.

Die Euromaidan-Revolution

Nachdem der damalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch 2013 unter russischem Druck das EU-Abkommen verweigert hatte, gingen in Kiew die Menschen auf die Strasse. Bis zu 800’000 Demonstrierende versammelten sich über Monate hinweg auf dem Platz der Unabhängigkeit. Das Anliegen einte Rechte, Linke, Liberale, Nationalisten, Arbeiter und Studenten. Im Februar 2014 schossen Sicherheitspolizisten auf die Teilnehmer, töteten rund 100 von ihnen und verletzten knapp 1000. 17 Polizisten starben. Janukowitsch floh daraufhin nach Russland, Ende Februar annektierte der Kreml die ukrainische Krim-Halbinsel. Prorussische ukrainische Separatisten und russische Streitkräfte stürmten im Süden und Osten der Ukraine regionale Verwaltungen. Neben der ukrainischen Armee ziehen viele ukrainische Milizen in den Krieg, einige von ihnen rechtsextrem und stark umstritten. Der Konflikt dauert bis heute an.

Keystone

Nachdem der damalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch 2013 unter russischem Druck das EU-Abkommen verweigert hatte, gingen in Kiew die Menschen auf die Strasse. Bis zu 800’000 Demonstrierende versammelten sich über Monate hinweg auf dem Platz der Unabhängigkeit. Das Anliegen einte Rechte, Linke, Liberale, Nationalisten, Arbeiter und Studenten. Im Februar 2014 schossen Sicherheitspolizisten auf die Teilnehmer, töteten rund 100 von ihnen und verletzten knapp 1000. 17 Polizisten starben. Janukowitsch floh daraufhin nach Russland, Ende Februar annektierte der Kreml die ukrainische Krim-Halbinsel. Prorussische ukrainische Separatisten und russische Streitkräfte stürmten im Süden und Osten der Ukraine regionale Verwaltungen. Neben der ukrainischen Armee ziehen viele ukrainische Milizen in den Krieg, einige von ihnen rechtsextrem und stark umstritten. Der Konflikt dauert bis heute an.

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Ivona Kostyna (25) war gerade siebzehn geworden und wollte nach der Schule als Barkeeperin um die Welt reisen, als der Maidan kam und alles veränderte. Heute sitzt sie im Westen Kiews, mit dem Bus etwa 30 Minuten vom Zentrum entfernt, dort, wo die Schlaglöcher immer tiefer werden, auf einem grasgrünen Sofa ihrer Hilfsorganisation Veteran Hub.

Zu viele Veteranen fürs System

Den Krieg kannte Kostyna damals nur aus Filmen. Als Veteranen stellte sie sich schlohweisse Grossväter vor. 2014 und 2015 kamen Menschen in Wellen von bis zu 60’000 aufs Mal aus dem Donbass zurück, erzählt sie, die pinke Turnschuhe und Zahnspange trägt. «Und dann stehst du plötzlich vor deinen gleichaltrigen Freunden oder Familienmitgliedern. Die zurückgekommen sind mit einer Erfahrung, so intensiv, dass niemand von uns sie je verstehen könnte.»

Veteranen müssten sich nach ihrer Rückkehr erst wieder an ihr Leben als Zivilisten gewöhnen, sagt Kostyna. Die meisten von ihnen bräuchten professionelle psychologische und rechtliche Hilfe. Ihr war klar: Das ukrainische Regierungssystem hatte weder das Wissen noch auch nur annähernd die Ressourcen, um sich um die Veteranen zu kümmern. Denn nach wie vor ist die Regierung zerfressen von Korruption und mit einem oligarchischen Machtfilz überzogen.

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Deshalb gleiste sie vor sechs Jahren einen Ort auf, an dem Veteranen und kleinere soziale Organisationen unter einem Dach zusammenkommen. Wo bereits rund 8000 Veteranen kostenlos Hilfe erhalten haben, wo Konzerte und Diskussionen stattfinden, wo man sich auf den bunten Sofas entspannen oder im Coworking-Space arbeiten kann. Das Projekt Veteran Hub wird durch Spenden finanziert – ohne staatliche Unterstützung.

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Jeder könnte ein Veteran sein

Weil sich in Kiew der Krieg so weit weg anfühle, habe man sich hier noch nicht daran gewöhnt, Veteranen um sich zu haben, sagt Kostyna. Sie lässt ihren Blick aus dem 21. Stock über die Stadt gleiten. «Dabei kann es der Typ mit dem Laptop im Café oder die junge Frau im Club sein.»

Die jüngste Kriegsbedrohung durch Russland sei – wie alle Veränderungen – ein Trigger für Veteranen. Fast alle von ihnen hätten deshalb einen Notfallplan, so Kostyna. Für den Fall, dass Russland wieder angreift. «Sie haben bereits alles entschieden: ob sie wieder kämpfen, ob sie ihre Familien evakuieren, was mit ihrem Job geschieht.

Kostyna vermutet, dass im Ernstfall zwar die meisten Kiewer Veteranen den Wunsch verspüren würden, wieder in den Donbass zu gehen: In der Veteranengemeinschaft existiert das Narrativ der ständigen Bereitschaft. Doch sei die Antriebskraft, die sie 2014 in den Krieg habe ziehen lassen, heute wohl nicht mehr ganz so gross. Auch sei das Vertrauen der Milizen in die Regierungstruppen etwas gewachsen.

Pizza gegen das Trauma

Ein anderer, der die Veteranen wieder in die Gesellschaft integrieren will, ist Leonid Ostaltsew (34). Er kommt gerade vom Gym und trinkt Tee in seiner Pizzeria, fünf Gehminuten vom Maidan entfernt. Die Wand hinter ihm ist von Militärabzeichen und einer grossen Kalaschnikow bedeckt. Es riecht nach gebackenem Käse.

Ostaltsew war Pizzaiolo, als er 2014 eingezogen wurde. Maschinengewehrschütze in der Infanterie der ukrainischen Armee, ein Jahr lang. Im Donbass hörte er immer wieder, wie schwierig die Jobsuche nach der Rückkehr sei. «Arbeitgeber wissen nicht, wie sie mit posttraumatischen Belastungsstörungen umgehen sollen, oder sie fürchten, Veteranen könnten ständig eine Waffe auf sich tragen», sagt Ostaltsew und schaut den jungen Frauen und Männern im Restaurant dabei zu, wie sie Pizzen belegen und den Gästen Drinks servieren.

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Deshalb kehrte Ostaltsew mit einer Geschäftsidee zurück: eine Pizzeria, in der Veteranen Arbeit finden. Geld hatte er keins. Doch der Besitzer eines chinesischen Restaurants bot ihm an, die Hälfte seines Lokals zu übernehmen, investierte 5000 Dollar in einen Pizzaofen und die Zutaten. Sechs Jahre später ist Ostaltsews Idee zu elf Pizzerien, 16 Cafés, einem Sicherheitsdienst und einer Konditorei herangewachsen.

«Russland wird immer unser Nachbar sein»

Dass er einen Plan hatte für sein Leben nach dem Krieg, hat Ostaltsew bei der Rückkehr geholfen. Hie und da witzelt er mit seinen Gästen und Angestellten herum, alle kennen den Pizzaiolo mit den dunklen Augen. Ebenfalls seit sechs Jahren fester Teil seines Teams ist eine Psychologin, bei der jeder Mitarbeiter einmal die Woche einen Termin hat. Das sollte komplett normal sein, meint Ostaltsew.

Den jüngsten Truppenaufmarsch Russlands nimmt Ostaltsew relativ gelassen. Vieles habe sich geändert seit 2014, das ukrainische Militär sei besser geworden. Nur Waffen, davon brauche es mehr. Fast jeden Tag trainiert er auf der Schiessanlage, bereitet sich vor auf einen weiteren Krieg. «Wir haben uns damit abgefunden, dass Russland immer unser Nachbar sein wird», sagt Ostaltsew. Seine Pizzeria helfe ihm dabei, trotzdem einen normalen Alltag zu führen. «Ich habe schliesslich nur ein Leben.» Und das möchte er nicht an die Angst verschwenden.

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