Sind die spektakulären Haftentlassungen reine Ermittlungstaktik?
Der Kreis der Verdächtigen im Gondel-Drama wird immer grösser

Der Direktor und Wartungstechniker sind zwar wieder frei, doch die Ermittlungen gegen sie laufen auf Hochtouren weiter. Staatsanwältin Olimpia Bossi hat noch weitere Mitwisser und Mittäter im Visier.
Publiziert: 31.05.2021 um 14:47 Uhr
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Aktualisiert: 31.05.2021 um 19:37 Uhr
Myrte Müller

Ob am Ausgang des Gefängnisses, am Parkplatz seines schwarzen SUVs oder vor seiner Jugendstil-Villa in Baveno (I) – der Direktor der Seilbahn von Stresa wird von Journalisten umringt. Luigi N.* (56) reagiert ungehalten. Er reklamiert, statt auf die drängenden Fragen zu antworten. Nur über seinen Anwalt findet der Italiener viel Mitgefühl. Er werde an den Gräbern der Todesopfer beten, ausserdem verspricht er Entschädigungszahlungen. Ansonsten sei er unschuldig am schrecklichen Absturz vom Pfingstsonntag.

Luigi N. wirkt nervös. Die Haftentlassung nach 90 Stunden im Gefängnis beruhigt nicht wirklich. Dünne Indizienlage, keine Fluchtgefahr, so die Begründung der Richterin vor den Medien. Doch steckt hinter der überraschenden Freilassung möglicherweise reine Ermittlungstaktik?

Die Staatsanwaltschaft weitet den Kreis der möglichen Mitwisser und Mittäter unter der Belegschaft aus. Auch für Vertreter der Gemeinde Stresa oder der Region Piemont könnte es brenzlig werden. Noch sind die Besitzverhältnisse der Seilbahn juristisch nicht geklärt. Neuen Erkenntnissen, neuen Zeugenaussagen könnten durchaus neue Haftbefehle folgen. Auch gegen den Seilbahn-Direktor.

Seilbahn-Direktor Luigi N.* (56) will von den Manipulationen am Bremssystem der Gondel nichts gewusst haben. Wegen Mangel an Indizien wurde der Italiener in der Nacht auf den Sonntag aus der U-Haft entlassen.
Foto: Asus
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Starben 14 Menschen, weil Firma von Luigi N. pleite war?
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Vorwürfe nach Seilbahnunglück:Starben 14 Menschen, weil Firma von Luigi N. pleite war?

Auch Unglückskapitän Schettino war zunächst aus der U-Haft entlassen worden

Vielleicht muss Luigi N. in diesen Tagen an Francesco Schettino (61) denken. Auch der Kreuzfahrtschiff-Kapitän wurde einst auf freiem Fuss gesetzt, obwohl er offenkundig die Havarie des Kreuzfahrtschiffes Costa Concordia 2012 vor der Insel Giglio verursacht hatte. Ein Unglück, bei dem 32 Passagiere ertranken. Schlussendlich wanderte der Neapolitaner dann doch wegen fahrlässiger Tötung für 16 Jahre hinter Gittern.

Das Gondel-Drama wiegt schwer. Es passiert exakt um 12.02 Uhr. Die Bergstation ist zum Greifen nah. Da reisst das Zugseil. Die Notbremse funktioniert nicht, weil sie, wie sich später herausstellt, absichtlich deaktiviert worden ist. Die Gondel Nr. 3. rast mit über 100 km/h talwärts, wird vom Tragseil katapultiert und zerschellt im steilen Hanggelände. 14 Passagiere sterben. Ein Bub überlebt schwer verletzt. Der kleine Eitan (5) verliert beim Unglück fast die gesamte Familie. Die Menschen in der Seilbahn hatten nicht die Spur einer Chance.

Inzwischen bessert sich der Zustand des Fünfjährigen. Er könne am Dienstag von der Intensivstation auf eine andere Station verlegt werden, teilte das Kinderkrankenhaus in Turin am Montagabend mit. Seine Brust- und Bauchverletzungen besserten sich. Seine Tante sei bei ihm, hiess es weiter.

Wusste nur der technische Leiter von den Gondel-Pannen?

Aus den Verhören ergibt sich: Das Bremssystem der Gondel war schon in den Wochen vor dem Unglück defekt, machte komische Geräusche und blockierte die Gondel immer wieder. Es hätte einer gründlichen Reparatur bedurft. Das jedoch hätte 48 Stunden Betriebsausfall bedeutet. Damit es nicht wieder zu Pannen und Verzögerungen kommt, ordnete der technische Leiter, Gabriele T.* (63) an, die Notbremse mit zwei sogenannten Gabeln ausser Kraft zu setzen. Und das schon Ende April. Allein in den 14 Tagen vor dem Absturz wurden die Bremsen bei zehn Gelegenheiten deaktiviert.

Für die Richterin ist bislang Gabriele T. der Alleinverantwortliche. Er bleibt im Hausarrest. Zeugen hätten weder Luigi N. noch Ingenieur Enrico P. belastet. Beide beteuern, nichts von den Manipulationen gewusst zu haben. Doch zählt man Eins und Eins zusammen, tauchen Fragen auf.

Wie kann der Chef einer Seilbahn über Wochen nicht von den Gondel-Pannen erfahren? Welches persönliche Interesse hat der technische Leiter an Sparmassnahmen? Und wie kann dem Wartungstechniker Enrico P. entgehen, dass mit dem Bremssystem etwas nicht stimmt? Staatsanwältin Olimpia Bossi versucht, auch im Mail-Verkehr der drei Beteiligten und in deren Smartphones-Messages Antworten zu finden. Sie bleibt bei ihren Vorwürfen: Schuldhaft verursachte Katastrophe, mehrfache fahrlässige Tötung und Körperverletzung.

Noch zu klären ist der Riss des Zugseils. Liegt auch hier Schlamperei und menschliches Versagen vor? Mit der Klärung ist nun ein Gutachter vom Polytechnikum in Turin beauftragt.

*Namen bekannt


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