«Sie grinsten nur»
Augenzeugin erinnert sich an November-Pogrome

Margit Siebner war am 9. November 1938 ein zehnjähriges Mädchen. Die Tochter eines jüdischen Vaters und einer nicht-jüdischen Mutter erlebte die Novemberpogrome vor 80 Jahren in Berlin mit - und schaut mir Sorge auf die Gegenwart.
Publiziert: 08.11.2018 um 14:20 Uhr
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Aktualisiert: 31.07.2022 um 00:50 Uhr

Genau 80 Jahre sind die von Hitler und seinem NS-Regime initiierten Pogrome gegen Juden am Freitag her. Margit Siebner hat die Schrecken von Gewalt und Zerstörung miterlebt, zehn Jahre war sie zu diesem Zeitpunkt alt. Ihr jüdischer Vater befand sich 1938 bereits im Konzentrationslager Buchenwald.

Nachdem ihm die Nazis zwei Jahre zuvor seinen Buchladen wegnahmen, erwarb er für seine Ehefrau ein Tabakgeschäft am Spittelmarkt in Berlins Mitte. Am 9. November schickte ihre Mutter Margit Siebner los, um die Situation der anderen jüdischen Geschäfte auszukundschaften, erinnert sie sich.

O-Ton: «Aber ich habe dann erlebt, wie die anderen Schaufensterscheiben klirrten in der Umgebung. Wir hatten da ganz viele jüdische Geschäfte am Spittelmarkt. Und da ging eigentlich so mein Vertrauen in die Polizei flöten, weil man hatte mir damals als Kind immer gesagt, wenn du mal Probleme hast, gehst Du zum Schutzmann. Sie müssen sich das so vorstellen, um diese ganze Geschichte herum stand viel Polizei. Und ich glaubte ja meinen Eltern, ich rannte da hin und sagte, helfen Sie uns doch, sehen Sie mal. Die grinsten, die haben nicht geholfen. Und so war das, wie man mir nachher erzählt hatte, bei den anderen Leuten auch.»

Von den Nationalsozialisten wurde sie zum sogenannten «Mischling» erklärt, als Tochter einer nicht-jüdischen Mutter und eines jüdischen Vaters, eine Klassifizierung mit vielfach tödlichen Konsequenzen.

«Aber was eben schlimm war in der Schule, dann in der Rassenkunde, dann kamen die, und wir wurden abgemessen. Die hatten ein Buch von Herrn Rosenberg. Rosenberg war ja der Erfinder der Rassenlehre und behauptete, dass jüdische Mischlinge, also einer wie ich, hätten ein angewachsene Ohrläppchen. Und nun gucken Sie mal. Also das war ein kleiner Triumph für mich drei Minuten, hatte ich nicht. Aber wir wurden abgemessen.»

Schuldzuweisungen wolle sie nicht aussprechen, so Margit Siebner. Aber sie wünscht sich Lehren für die Gegenwart.

«Natürlich haben wir, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben wir gesagt, nie wieder. Und nun gucken Sie sich das an, was wieder in der Welt los ist, nicht nur in Deutschland, in Frankreich, in Holland, überall. Und ich bin neulich gefragt worden auch von jemandem, der mich hier interviewt hat, ob ich einen Appell an die Schüler oder an die jüngeren Menschen hätte. Und da habe ich gesagt: Wehret den Anfängen. Denn wissen Sie, damals die Anfänge sind nicht ernst genommen. Das habe ich selber erlebt.»

Sie selbst hat den Holocaust als Arbeiterin unter falschem Namen in einer Munitionsfabrik überlebt. Ihrem Vater gelang 1938 die Flucht nach Schanghai. Dort hielt er sich mit einem mobilen Bücherstand über Wasser, bevor er 1946 an Tuberkulose starb.

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