Präsident Wolodimir Selenski reist in die USA
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Washington bestätigt:Präsident Wolodimir Selenski reist in die USA

Selenski auf US-Reise – Putin auf Betteltour
Deshalb ist Kiew nach 300 Kriegstagen auf Siegeskurs

Wo wird derzeit am heftigsten gekämpft? Wie geht es eigentlich Wolodimir Selenski? Was plant der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko? Und worauf müssen wir uns in diesem Winter einstellen? Antworten auf die wichtigsten Fragen nach 300 Tagen Ukraine-Krieg.
Publiziert: 21.12.2022 um 08:55 Uhr
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Aktualisiert: 21.12.2022 um 12:58 Uhr
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Am 24. Februar lancierte Moskau seinen brutalen Angriff auf das westliche Nachbarland. Die Ereignisse in der Ukraine überschlagen sich. Doch: Wo stehen wir fast zehn Monate nach Ausbruch dieses Krieges genau? Die Antworten auf 7 zentrale Fragen.

Wer hat in der Ukraine derzeit die Oberhand?

Die Ukrainer selbst. Die Befreiung der Metropole Cherson im Süden, die Verteidigung der Donbass-Stadt Bachmut im Osten und die Zunahme von ukrainischen Angriffen auf russische Militärziele (etwa in der russischen Stadt Belgorod oder in der weit hinter der Front liegenden, von Russland besetzten Krim-Stadt Melitopol) deuten auf ein nach wie vor riesiges ukrainisches Selbstvertrauen hin. Laut Angaben des ukrainischen Militärs sind in der Ukraine zudem bereits fast 100'000 russische Soldaten gefallen. Die US-Armee scheint diese Schätzung zu bestätigen, allerdings mit dem Hinweis, dass die ukrainische Seite annähernd gleich viele Kämpfer verloren habe.

Wo wird am heftigsten gekämpft?

Rund um die Kleinstadt Bachmut in der Donbass-Region Donezk. «Bachmut ist der Hotspot auf der gesamten 1300 Kilometer langen Kriegsfront», sagte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski bei seinem Überraschungsbesuch am Dienstag. Vor dem Krieg lebten in Bachmut mehr als 70'000 Menschen, heute gleiche die Stadt «einer brennenden Ruine». Strategisch ist die Stadt nicht unwichtig. Wenn die Russen sie erobern können, sind die beiden ukrainischen Grossstädte Slowjansk und Kramatorsk unmittelbar gefährdet. Zusätzlich zur russischen Armee setzt Putin in der Region neuerdings auch die mehrheitlich aus Gefängnissen rekrutierten, brutal agierenden Kämpfer der Wagner-Truppe ein.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat am Dienstag die Truppen an der Donbass-Front in Bachmut besucht.
Foto: AFP
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Wie schlimm ist die humanitäre Lage?

Sehr schlimm. Nach einem zwischenzeitlichen Totalausfall funktionieren die Heizwerke und die Wasserversorgung in der Hauptstadt Kiew zwar wieder. Vielerorts aber leben die Menschen trotz Minustemperaturen ohne funktionierende Heizungen oder fliessendes Wasser. Die täglichen Drohnen- und Raketenangriffe auf fast sämtliche Grossstädte in der Ukraine erschweren die Reparaturbemühungen vielerorts extrem. Olena Dergunova (54) aus der Donbass-Stadt Slowjansk sagt zu Blick: «Das Ganze kommt mir vor wie eine Reality-Show, bei der die ganze Welt zuschaut und darüber werweisst, ob wir überleben werden oder nicht.» Valerii Saluschnyj (49), der ukrainische Oberbefehlshaber, warnt in einem Interview mit dem britischen Economist vor der grossen Gefahr weiterer Blackouts: «Dann werden die Frauen und Kinder der Soldaten zu frieren beginnen. Was wird das mit den Kämpfern machen? Können wir unsere Reservisten auf den Kampf vorbereiten, wenn wir kein Wasser, kein Licht und keine Wärme haben?»

Wie geht es Wolodimir Selenski nach zehn Monaten ununterbrochenem Krieg?

Der 44-Jährige wirkt bei seinen regelmässigen Medienauftritten und auf seinen täglichen Video-Nachrichten noch immer unglaublich gelassen und zuversichtlich. Er besucht die Truppen an der Front (zuletzt am Dienstag in Bachmut), empfängt ausländische Besucher und steht jeden Morgen um 6 Uhr auf, um vor Anbruch des Tagesgeschäfts rund 40 Seiten in Büchern zu lesen. In seinem Regal steht etwa das Buch «Hitler und Stalin: Die Tyrannen des Zweiten Weltkriegs» des englischen Historikers Laurence Rees. In einem Interview mit dem einstigen US-Showhost David Letterman (75) sagte Selenski: «Nach dem Krieg will ich einfach ans Meer und mal wieder ein Bier trinken.» Für Überraschung sorgt am Mittwoch dann die Ankündigung der US-Regierung, den ukrainischen Präsidenten in Washington zu empfangen. Es ist Selenskis erste Auslandsreise seit Ausbruch des Krieges – dass diese trotz russischem Angriff möglich ist, spricht Bände.

Mischt sich der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko jetzt in den Krieg ein?

Das wäre Wladimir Putins (70) grösster Wunsch. Eine Einmischung der belarussischen Armee würde eine neue Front in diesem Krieg eröffnen und die begrenzten ukrainischen Kräfte im Norden binden. Der Kreml-Chef hat Lukaschenko (68) Anfang Woche sogar extra in Minsk besucht, um ihm kriegerischen Honig ums Maul zu schmieren. Doch Lukaschenko scheint nicht so recht zu wollen. Auch die Kriegs-Experten des amerikanischen Institute for the Study of War (ISW) halten eine aktive Einmischung Lukaschenkos in den Ukraine-Krieg derzeit für «extrem unwahrscheinlich». Sorgen machen sich derweil auch die Moldawier. Der Geheimdienst des westlichen Nachbarlandes der Ukraine rechnet damit, dass Russland bereits Anfang 2023 einen Angriff auf Moldawien starten und die abtrünnige Provinz Transnistrien offiziell besetzen könnte.

Kommt es bald zu Friedensverhandlungen?

Wohl kaum. Friedensverhandlungen machen aus Sicht der beiden Kriegsparteien erst dann Sinn, wenn ihre militärischen Mittel ausgeschöpft sind. Russland hat noch immer Hunderttausende Männer, die es in den Krieg schicken kann. Und die Ukraine hat erst vergangene Woche noch einmal 275 Millionen Dollar amerikanische Militärhilfe erhalten. Ein Verhandlungsangebot der Amerikaner hatten die Russen zuletzt ausgeschlagen. Der kürzlich über die Bühne gegangene Gefangenenaustausch zwischen Moskau und Washington (die in Russland festgenommene Basketballerin Brittney Griner wurde im Tausch gegen den in den USA inhaftierten Waffenhändler Viktor But freigelassen) zeigt aber: Hinter den Kulissen laufen die diplomatischen Gespräche zwischen dem Westen und Russland weiter.

Wie geht der Krieg weiter?

Der australische Ex-General Mick Ryan schreibt auf Twitter, die kommenden Wochen würden in der Ukraine durch einen angespannten Stillstand geprägt sein. Beide Seiten seien dabei, ihre Truppen aufzurüsten und ihre Materiallager aufzustocken für die nächsten grosse Schlacht 2023. Dass diese kommen wird, das tönte auch der ukrainische Oberbefehlshaber Waleri Saluschni jüngst in einem Interview mit dem «Economist» an. Saluschni sagte: «Die Russen stellen gerade eine Truppe mit 200'000 neuen Soldaten zusammen. Ich habe keine Zweifel daran, dass sie erneut versuchen werden, Kiew einzunehmen.» Schon im Januar könnte es laut dem ukrainischen General so weit sein.

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