«Bin nicht zuversichtlich, dass bald Frieden herrscht»
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Schweizer Botschafter in Kiew:«Vor Raketenangriffen kann man sich nicht schützen»

Schweizer Botschafter in Kiew
«Eine Ukraine-Müdigkeit können wir uns nicht leisten»

Claude Wild (58), der Schweizer Botschafter in der Ukraine, erklärt, warum er den Raketenalarm ignoriert, wie die Schweiz der Ukraine auch ohne Waffenlieferungen zum Sieg verhilft und weshalb er keine Krawatte mehr trägt.
Publiziert: 25.08.2022 um 09:30 Uhr
Interview: Samuel Schumacher

Eben noch heulte mal wieder ein Raketenalarm durch die Strassen. Doch Claude Wild (58), Schweizer Botschafter in Kiew, sitzt ganz entspannt in seinem Büro in der ukrainischen Hauptstadt. Sirenen, Alarme, Schreckensmeldungen: Die gehören für den Diplomaten zum ganz normalen Arbeitsalltag. Seit Mai ist er zurück im Kriegsland – zusammen mit 12 Schweizer und 29 lokalen Mitarbeitenden. Neu dazugekommen ist ein Team der Sondereinheit AAD-10 der Schweizer Armee, das für die Sicherheit des Botschaftsteams sorgt. Ansonsten aber wirkt vieles in der Botschaft wie vor dem Krieg. Blumen stehen auf dem Tisch, es gibt Kaffee und Nüssli. Eines aber fällt sofort auf.

Blick: Herr Wild, bei unserem letzten Treffen in Kiew Anfang Februar trugen Sie noch eine Krawatte. Heute nicht mehr. Hat Präsident Selenski Sie mit seinem Kriegs-Outfit zu mehr Lockerheit inspiriert?
Claude Wild:
Gut beobachtet! Seit dem 24. Februar verzichte ich auf die Krawatte – aus Solidarität mit der leidenden ukrainischen Bevölkerung. Eine Krawatte symbolisiert für uns Normalität. Normalität gibt es hier aber leider keine mehr.

Sie sind seit Mai wieder in Kiew. Hat Ihre Familie nicht protestiert, als Sie ins Kriegsland zurückkehren wollten?
Nein, das ist schliesslich mein Job. Und auch meine Familie ist sehr mit der Ukraine verbunden, muss aber wegen der Sicherheitslage momentan in der Schweiz bleiben.

Claude Wild (58), Schweizer Botschafter in Kiew, ist im Mai wieder ins Kriegsland Ukraine zurückgekehrt.
Foto: Samuel Schumacher
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Hatten Sie selber nie Zweifel, ob Ihre Rückkehr allenfalls verfrüht ist?
Im Gegenteil, ich wollte eher noch früher zurückkommen. Nicht zuletzt wegen unseres Lokalpersonals, das zum Teil die ganze Zeit über in der Ukraine geblieben ist.

Auch Sie selber haben den Krieg hautnah miterlebt. Was haben Sie in diesem halben Jahr über sich gelernt?
Dass man bescheiden sein muss – und dass man sich nicht immer auf die rationale Logik verlassen darf. Man sollte sehr vorsichtig sein mit Prognosen und sehr flexibel bleiben bei der Zukunftsplanung.

Mutiger Mann

Claude Wild (58) ist seit 2019 Schweizer Botschafter in Kiew. Anfang März ist der Diplomat mit seinem Team aus der Ukraine geflohen und hat sein Büro temporär in die moldawische Hauptstadt Chisinau verlegt. Seit Mai ist Wild mit insgesamt 41 Mitarbeitenden wieder zurück in der Botschaft in Kiew. Seine Diplomatenlaufbahn führte Wild u.a. an Stationen in Nigeria, Kanada, Brüssel und ab 2015 für vier Jahre als Vertreter der Schweiz bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

Claude Wild (58) ist seit 2019 Schweizer Botschafter in Kiew. Anfang März ist der Diplomat mit seinem Team aus der Ukraine geflohen und hat sein Büro temporär in die moldawische Hauptstadt Chisinau verlegt. Seit Mai ist Wild mit insgesamt 41 Mitarbeitenden wieder zurück in der Botschaft in Kiew. Seine Diplomatenlaufbahn führte Wild u.a. an Stationen in Nigeria, Kanada, Brüssel und ab 2015 für vier Jahre als Vertreter der Schweiz bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

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Manchmal kommt es ja auch besser als geplant. Als Sie im Winter aus Kiew geflohen sind, rechneten Sie nicht damit, dass die Ukraine die Stadt halten kann.
Ich glaubte – wie viele andere –, dass ich Kiew nie wiedersehen werde. Diese Befürchtung war zum Glück falsch. Aber vieles hat sich verändert. Es sind viel weniger Kinder hier. Und viele Institutionen, die sich eigentlich um die Zukunft des Landes kümmern sollten, müssen sich rund um die Uhr mit dem Krieg beschäftigen. Der Krieg prägt die Stadt …

… zum Beispiel durch die ständigen Raketenalarme. Die nimmt aber kaum noch jemand ernst. Gehen Sie bei jedem Raketenalarm in Ihren Schutzraum?
Nein. Wir reagieren situativ. Wenn wir einen Raketeneinschlag hören, gehen wir in den Schutzraum. Vielleicht ist das von aussen nur schwer nachvollziehbar. Aber wenn Sie sich bei jedem Alarm vor Augen führen, dass es Sie jetzt treffen könnte, dann setzen Sie sich einem massiven Stress aus. Wir wollen nicht täglich in einem Klima der Angst arbeiten müssen.

Ist diese Haltung nicht brandgefährlich?
Die Sirenen gehen bei jeder Rakete los, die wegen ihrer Flugrichtung möglicherweise den Grossraum Kiew treffen könnte. Vielleicht zwei von zehn dieser Raketen schlagen tatsächlich irgendwo in der Stadt ein. Das Risiko, dass es uns direkt trifft, ist gering.

Wie schützen Sie sich denn sonst vor den Gefahren des Krieges?
Wir haben seit unserer Rückkehr ein Spezialisten-Team der Armee hier, das für unsere Sicherheit sorgt. Zudem wird unser Gebäude rund um die Uhr von einer privaten Sicherheitsfirma überwacht. Genauere Details darf ich leider keine nennen.

Haben Sie einen Helm und eine schusssichere Weste?
Nein, aktuell nicht. Die Bedrohungslage ist auch eine andere als zu Beginn dieses Kriegs, als russische Panzer und Fallschirmjäger vor den Toren von Kiew standen. Die Bedrohung heute kommt vom Raketenbeschuss. Und gegen Raketen sind schusssichere Westen und Helme nutzlos.

Sie mussten vor Ihrer Flucht aus Sicherheitsgründen viele Dokumente zerstören. Als Sie zurückkamen, musste Ihr Team erst mal die vertrockneten Topfpflanzen und die keimenden Kartoffeln aus dem Botschaftskeller entsorgen. Eine gesicherte Internetverbindung gab es keine. Funktioniert die Botschaft inzwischen wieder so wie vor dem Krieg?
Die Schalter unseres Konsulardienstes sind nach wie vor geschlossen. Sie können hier also keine Visa oder neuen Pässe beantragen, das ist weiterhin nur per Telefon oder Internet möglich, mit Aushändigung der Dokumente in Bern oder bei unserer Botschaft in Bukarest.

Sie selbst sind während des Krieges zum James Bond der Schweizer Diplomatenszene mutiert: Flucht aus einem Kriegsgebiet, dann Ihre Rückkehr nach Kiew, zahlreiche Auftritte in den Medien. Haben Sie viel Fanpost erhalten?
Nein. Ich habe diese Rolle ja auch überhaupt nicht gesucht. Aber ich finde es gut, dass sich die Öffentlichkeit beim Verfolgen dieses Krieges wieder vermehrt dafür interessiert hat, was die Schweizer Diplomatie macht, wie so eine Botschaft genau funktioniert oder was ein Botschafter eigentlich genau tut.

Im Gespräch mit den Menschen hier wird immer wieder Kritik laut an der Schweiz, weil wir der Ukraine keine Waffen liefern. Was entgegnen Sie auf diesen Vorwurf?
Er ist auf den ersten Blick verständlich. Die Ukrainer sind bereit, für das Überleben ihres Landes zu sterben – aber sie brauchen für ihren Kampf Waffen. Waffenlieferungen sind in ihrer Wahrnehmung die zentrale Hilfeleistung, die aus dem Ausland, aus dem Westen, kommen soll. Das Neutralitätsrecht ist hier aber klar: Die Schweiz darf keine Waffen an kriegführende Staaten liefern, auch nicht an einen Staat, der sich militärisch verteidigt. Wir erklären das und zeigen gleichzeitig auf, wie wichtig und wirkungsvoll unsere humanitäre Hilfe ist.

Was macht die Schweiz denn ganz konkret für die Ukraine?
Viele der Reformen, die wir in der Ukraine seit Jahren unterstützen, gehen trotz des Krieges weiter. Ein Beispiel ist die Dezentralisierung. Die von der Schweiz geförderte Stärkung der lokalen Verwaltung, zum Beispiel der Bürgermeisterinnen und Stadtpräsidenten, hat viel dazu beigetragen, dass sich die Städte jetzt im Krieg so gut selber organisieren können. Seit Kriegsausbruch leisten wir zudem humanitäre Hilfe für die Ukraine. Wir haben über 600 Tonnen Hilfsgüter aus der Schweiz in die Ukraine transportiert und vor Ort rund 5000 Tonnen Nahrungsmittel zur Unterstützung der Bevölkerung gekauft. Erst kürzlich organisierten wir wieder einen Konvoi mit medizinischen Hilfsgütern und Material zur Brandbekämpfung.

An der Ukraine-Reformkonferenz in Lugano Anfang Juli hat die ukrainische Seite ihre eigenen Ideen für den Wiederaufbau des Landes präsentiert. Der Plan sieht vor, dass einzelne Länder Patenschaften für ukrainische Regionen übernehmen. Die Schweiz soll sich um Odessa kümmern. Ein guter Match?
Wir sind der Meinung, dass man beim Wiederaufbau auf Erfahrung und Stärken fokussieren sollte. Die Schweiz ist zum Beispiel sehr gut beim Thema Wasser. Da haben wir etwa in den Regionen Sumy und Tschernihiw wichtige Projekte am Laufen, die wir weiterführen möchten. Das macht mehr Sinn, als uns nur noch um Odessa zu kümmern, auch wenn wir natürlich auch Projekte in dieser Stadt unterstützen.

Was ist das wichtigste Projekt der Schweiz in der Ukraine?
Da gibt es viele: unsere Wasser-Projekte, die Entminungs-Bemühungen, unsere Mikro-Kredite für kleine Unternehmen, eine mögliche Schweizer Unterstützung für das ukrainische Eisenbahnnetzwerk. Ohne funktionierende Eisenbahn würde die Ukraine kollabieren. Und mehr Know-how als die Schweiz hat in diesem Bereich niemand.

Wie stellt die Schweiz eigentlich sicher, dass die Hilfs- und Entwicklungsgelder in der immer noch korrupten Ukraine korrekt verwendet werden?
Wir arbeiten mit langjährigen, bewährten Partnern zusammen und sind wann immer möglich vor Ort, treffen unsere Partner und schliessen mit ihnen Verträge ab, deren Einhaltung wir kontrollieren. Da sind wir gut aufgestellt.

Ein halbes Jahr nach Kriegsausbruch lässt das Interesse an der Situation in der Ukraine bei vielen Menschen nach. Wie gefährlich ist das?
Die westliche Welt kann sich eine Ukraine-Müdigkeit nicht leisten. Der Angriff auf die Ukraine ist gleichzeitig ein Angriff auf die europäische Sicherheitsarchitektur, von der auch die Schweiz abhängt. Dazu trifft dieser Angriff auch unseren Wohlstand: Schweizer Unternehmen haben in den vergangenen Jahren Hunderte Millionen in das Land investiert. Diese Investitionen sind jetzt in manchen Fällen verloren oder zumindest in Gefahr. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine betrifft also auch die Schweiz direkt.

Was sagen Sie jenen, die mit Blick auf die Gas-Knappheit und den nahenden Winter fordern, dass man jetzt wieder mit Russland verhandeln müsse?
Wie soll das denn genau gehen? Soll die Schweiz als einziges westliches Land die Sanktionen wieder aufheben? Das ist weder realistisch noch sinnvoll.

Wie lange wird der Krieg noch dauern?
Eine andere Taktik, als den Krieg durch massive Waffengewalt zu gewinnen, ist derzeit auf keiner der beiden Seiten erkennbar. Jetzt auf eine Einigung zu pochen und dann einen Fünftel des Territoriums an den Aggressor abgeben zu müssen, das wäre für die Ukraine ein schlechter Deal. Sie kämpft deshalb weiter, auch wenn sie weniger Waffen und Munition in der Hand hat. Dafür haben ihre Soldaten eine weit höhere Kampfmoral, weil sie ihr Land verteidigen und für das Überleben einer unabhängigen Ukraine kämpfen. Aber wie ich zu Beginn sagte: Man sollte sehr vorsichtig sein mit Prognosen.

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