Russen ziehen sich aus Kiew zurück – schlagen sie dafür nun umso heftiger im Süden zu?
Putin lässt von Selenski ab

Der Kreml hat am Dienstag überraschend bekannt gegeben, die «militärischen Aktivitäten» bei Kiew und Tschernihiw «deutlich reduzieren» zu wollen. Militärexperte Mauro Mantovani erklärt, was dieser Strategiewechsel bedeutet.
Publiziert: 29.03.2022 um 17:30 Uhr
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Aktualisiert: 30.03.2022 um 19:52 Uhr
Guido Felder

Überraschende Wende im Krieg in der Ukraine: Die russischen Truppen haben am Dienstagnachmittag bei Kiew und Tschernihiw zum Rückzug geblasen. Russland wolle seine «militärischen Aktivitäten» in diesen Gebieten «deutlich reduzieren», teilte der russische Vize-Verteidigungsminister Alexander Fomin (62) nach Verhandlungen mit einer ukrainischen Delegation in Istanbul mit.

Der Schritt solle dazu dienen, gegenseitig Vertrauen aufzubauen und die Bedingungen für weitere Verhandlungen zu schaffen. Die Ukraine sei dabei, einen Vertrag vorzubereiten über einen neutralen Status des Landes ohne Atomwaffen. Eine ausführliche Information über die Vereinbarungen von Istanbul soll es nach der Rückkehr der Delegation nach Moskau geben.

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Über Krim später diskutieren

Russland hat das Nachbarland vor knapp fünf Wochen überfallen und fordert unter anderem eine Anerkennung der 2014 annektierten Halbinsel Krim als russisches Staatsgebiet sowie die Anerkennung der ostukrainischen Gebiete Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten.

Ein ukrainischer Soldat begutachtet einen verlassenen russischen Panzer in der Nähe von Kiew.
Foto: keystone-sda.ch
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Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak sagte in seinem Kommentar, dass die Frage der Krim nach dem Ende der aktuellen Kampfhandlungen innerhalb von 15 Jahren diskutiert werden solle. Ebenso ausgeschlossen von einer aktuellen Friedenslösung soll die Frage des Status der Gebiete Donezk und Luhansk behandelt werden. Eine Gebietsabtretung kommt aber für die Ukraine nicht infrage.

Russland konzentriert sich auf den Süden

Was bedeutet diese Ankündigung der Russen? Mauro Mantovani (58), Dozent Strategische Studien an der ETH-Militärakademie, spricht gegenüber Blick von einem Strategiewechsel: «Es wäre eine Verschiebung des militärischen Schwerpunktes, die auf ein neues politisches Ziel hindeutet: die Eroberung und letztlich Annexion grosser Teile der Südukraine.»

Dieser Strategiewechsel habe sich abgezeichnet. Mantovani: «Bereits am 25. März hatte der stellvertretende russische Generalstabschef, Generaloberst Rudskoy, mitgeteilt, dass die erste Phase der ‹militärischen Spezialoperation› abgeschlossen sei und sich die russischen Streitkräfte nun auf die östliche Donbass-Region konzentrieren würden.»

Selenski nicht mehr im Visier?

In den folgenden Tagen habe man jedoch keine Umgruppierungen der russischen Armee feststellen können. Vielmehr sei der russische Vormarsch gegen Kiew – mit dem Ziel, die Stadt einzukesseln – schon vor Wochen ins Stocken geraten. Der ukrainischen Seite seien gleichzeitig mehrmals erfolgreiche Vorstösse gelungen, zuletzt die Rückeroberung des Vororts Irpin.

«Wenn es nun heisst, Russland wolle seine militärischen Aktivitäten bei Kiew deutlich reduzieren, ist dies meiner Einschätzung nach eine Konkretisierung der Mitteilung vom 25. März, aber vorerst noch immer eine Ankündigung», sagt Mantovani. «Sollte es tatsächlich zum Truppenabzug vor Kiew kommen, wäre es auch ein Eingeständnis, dass das primäre Ziel der russischen Invasion, die Regierung Selenski zu stürzen, ausser Griffweite geraten ist.»

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