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«Rache für Nahel» – Blick in der Pariser Vorstadt Montreuil
Meine Nacht mit den Randalierern

Parolen gegen die Polizei, Plünderungen und brennende Mülltonnen: Drei Uhr morgens in Montreuil – eine der Vorstädte von Paris, die seit dem Tod eines 17-Jährigen in Flammen stehen.
Publiziert: 02.07.2023 um 12:40 Uhr
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Aktualisiert: 02.07.2023 um 13:56 Uhr
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Richard Werly

A.C.A.B: «All Cops are Bastards». Der aus den USA importierte und durch Fernsehserien bekannt gewordene Schlachtruf leuchtet von der Glasfassade eines Ladens – gleich neben dem Kino Méliès, das in ganz Paris für sein hochwertiges Programm bekannt ist: Wir sind in Montreuil, mit 110'000 Einwohnern Archetyp eines grossen Vorstadtviertels, seit Jahren ein beliebtes Ziel der städtischen Bohème: Die Strassen im Stadtzentrum dieser Gemeinde, die immer noch von einem kommunistischen Bürgermeister geleitet wird, sind gentrifiziert worden.

Doch in dieser Nacht – es geht auf drei Uhr morgens zu – ist Montreuil in Rage. Eine Handvoll vermummter Jugendlicher in schwarzen Jogginganzügen, die den Inhalt der nächsten Mülltonne auf einen bereits in Brand gesetzten Haufen Abfall werfen. Die Flammen lodern an einer Fassade empor. Doch die Bereitschaftspolizisten halten Abstand. An der Mauer des Rathauses ist ein wütender Spruch zu lesen: «Rache für Nahel.»

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Das Ausmass des Feuers

Ich habe mich entschieden, Montreuil mitten in der Nacht zu besuchen, um das Ausmass des Flächenbrands zu erleben, der auf den Tod eines Jungen algerischer Abstammung folgte. Am Dienstagmorgen war der 17-jährige in Nanterre bei einer Polizeikontrolle erschossen worden. Nanterre ist das Gegenteil von Montreuil. Es liegt im Westen von Paris, am Rand des Geschäftsviertels La Défense. Montreuil, eine Hochburg der ehemaligen roten Vorstädte, liegt im Osten der Metropole. Doch beide Viertel wurden in der letzten Nacht vom selben Hass und denselben Flammen heimgesucht.

Montreuil, ein östlicher Vorort von Paris: Es ist drei Uhr morgens und Polizisten patrouillieren in der Stadt. Mehrere Geschäfte wurden geplündert.
Foto: Richard Werly
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Ich hielt an, um mit Jugendlichen zu sprechen, die mit Eisenstangen in der Hand vor dem Rathaus stehen – Auge in Auge mit Polizeieinheiten in Angriffsformation. Eine Gruppe von Plünderern kommt mit Kartons unter den Armen aus einem Geschäft. Sie gehen an uns vorbei. Keine Spur von Aggressivität. Sie lachen nur. Und wollen «die Bullen ficken». Indem sie so viel wie möglich zerstören.

Der Besitzer eines asiatischen Restaurants hat es vorgezogen, in seiner Sushi-Bar zu schlafen. Ein nordafrikanischer Cafébesitzer entschied sich zur Rekrutierung von Männern aus der Nachbarschaft, die sich vor seinem noch intakten Geschäft postiert haben. Und der Rest der Ladenzeile? Die eiserne Jalousie eines Geschäfts ist gerade aufgerissen worden. Ein junger Mann mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze und einem Tuch, das vom Kinn bis zu den Augen reicht, schlägt mit einer Eisenstange auf ein abgerissenes Verkehrsschild ein. Der Lärm muss alle in der Strasse aufwecken.

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Ein Anwohner ist zu hören: «Es ist Krieg. Die Bullen haben euch am Arsch ...», dann ertönt höllisches Kratzen auf dem Asphalt. Ein Dutzend Jugendliche schleppt Absperrungen hinter sich her. Sie prahlen damit, zwei Strassen weiter ein Fahrzeug angezündet zu haben. Ich gehe mitten hinein in ihren Trupp. Keiner greift mich an. Ein Motorradfahrer fährt wie im Slalom zwischen brennenden Mülltonnen hindurch. Das Gerippe eines ausgebrannten Autos versperrt die Strasse. Ein Anwohner behauptet, dass der kleine Renault gut zehn Minuten gebrannt hat. Dann kam die Feuerwehr.

In Kommandos organisiert

Sämtliche Fensterläden sind heruntergelassen. Niemand in diesem sonst so lebhaften Viertel rund ums Rathaus von Montreuil wagt es, die Nase nach draussen zu stecken. Die jungen Rebellen, die «Rächer von Nahel», stammen von hier. Aus diesen Gebäuden. Aus diesen Siedlungen. Sie haben sich in Kommandos aufgeteilt. Sie wollen etwas kaputt machen. Diebstahl erregt sie. Sie wollen vor allem, dass die Polizei reagiert. Bisher ein vergeblicher Wunsch.

Diese Jugendlichen sind nur gegenüber der Polizei gewalttätig. Sie sprechen nicht. Alle vermeiden es, auf Fragen zu antworten.

In der Nacht war es in ganz Frankreich zu Hunderten von Festnahmen gekommen. In Nanterre endete der «weisse Marsch» zu Ehren von Nahel in einem Meer von Tränengas. Hier: nichts dergleichen. Die Gesellschaft zerbricht. Das Viertel scheint zum Abriss freigegeben. Mit der Beute in den Händen prahlen Jugendliche vor den Ordnungskräften. Ihre Parolen: «Fick die Polizei», «Tod der Polizei!» Ausgangssperren in mehreren Städten haben die Unruhen nicht verhindern können. In den nächsten Stunden könnte der Ausnahmezustand ausgerufen werden. Wie alle anderen Städte, die seit zwei Tagen von der urbanen Gewalt in Mitleidenschaft gezogen wurden, ist auch Montreuil als Geisel genommen.

In Erwartung der nächsten Nacht.

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