«In der Türkei gibt es keine Gerechtigkeit, keine Justiz, kein Gesetz»
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Kurden vor den Wahlen:«In der Türkei gibt es keine Gerechtigkeit, kein Gesetz»

Rache an der Urne
Wie die Kurden Erdogans Polit-Karriere beenden könnten

Die Kurden machen rund 20 Prozent der türkischen Bevölkerung aus. Einen eigenen Kandidaten haben sie bei den Präsidentschaftswahlen aber nicht. Genau das macht sie für Erdogan so gefährlich.
Publiziert: 14.05.2023 um 12:18 Uhr
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Aktualisiert: 14.05.2023 um 15:18 Uhr
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Reyis Büyüksu (59) zieht ein letztes Mal an seiner Zigarette. Dann bläst er den Rauch und mit ihm den ganzen Frust durch den vom Teer gelb verfärbten Schnauz in die Stube hinaus. «Ein Leben lang habe ich Steuern gezahlt, habe Militärdienst geleistet für dieses Land. Wofür denn eigentlich?» Niemand kümmere sich um sie. Keiner sei gekommen, als seine Familie die Unterstützung so dringend benötigt hätte.

Büyüksus Stimme überschlägt sich, die blauen Augen sind tränengetrübt. Ein halbes Jahr ist es her, seit sein Sohn Baris versuchte, dem harten Schicksal der Kurden in der Türkei zu entkommen – und dabei ums Leben kam. Jetzt prangt sein Name überall hier in der Stadt Menemen auf den nackten Betonmauern: «Baris», in Rot, in Blau, in Schwarz.

Wie einen Märtyrer verehren sie den jungen Mann, der mit einem Flüchtlingsboot auf die nahe griechische Insel Kos übersetzte und dort mutmasslich von griechischen Schlägertrupps zu Tode geprügelt wurde. So steht es im Autopsie-Bericht, der Reyis Büyüksu jeden Tag aufs Neue die Tränen in die Augen treibt.

Spätestens 2015 ging die Beziehung zwischen Erdogan und den türkischen Kurden in die Brüche.
Foto: keystone-sda.ch
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Das führte zum Bruch zwischen Erdogan und den Kurden

Knapp 20 Prozent der türkischen Bevölkerung gehören der kurdischen Minderheit im Land an. Sie haben genug von der ständigen Diskriminierung durch die Regierung. Die rund 50'000 Toten beim Erdbeben im Südosten des Landes, wo besonders viele Kurden leben, haben ihre Wut auf die korrupten Beamten im Staat nur noch vergrössert.

Viele Kurden wollen weg – genau wie Baris. Präsident Recep Tayyip Erdogans (69) «Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung» (AKP) war ihnen einst wohlgesinnt. Doch ab 2015 trübte sich das Verhältnis zusehends. Die Kurden demonstrierten gegen Erdogans Pläne für ein neues Präsidialsystem, das dem türkischen Regierungschef weitreichende Machtbefugnisse verleihen sollte (und 2017 gegen den kurdischen Widerstand eingeführt wurde).

Nach dem Putschversuch im Sommer 2016 verschärfte Erdogan den Tonfall gegenüber den vermeintlich terroristisch unterwanderten Kurdenparteien erneut. Und seit 2018 regiert der starke Mann am Bosporus in einer Koalition mit der rechtsextremen «Partei der Nationalistischen Bewegung» (MHP), die ihren Hass auf die Kurden offen zur Schau trägt.

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Kilicdaroglus Versprechen an die Kurden

«Ich halte nichts von einem System, das nichts von mir hält», sagt Umut Büyüksu (27), der Bruder des verstorbenen Baris. An der linken Hand trägt er einen goldenen Ring mit Baris’ Konterfei darauf, in der rechten hält er ein Glas stark gezuckerten Tee. «Jene, die uns seit Jahren im Stich lassen, werde ich garantiert nicht wählen.» Die Türkei brauche nach 20 Jahren unter den gleichen Leuten dringend einen Wechsel.

Tönt wie eine Drohung. Ist es auch. Denn: Die Stimmen der Kurden könnten Erdogan bei den Präsidentschaftswahlen am 14. Mai den Sieg kosten. Die grösste Kurdenpartei im Land, die HDP, holte bei den letzten Wahlen knapp zwölf Prozent der Stimmen. Jetzt aber hat die türkische Regierung die HDP ausgebremst. Ein Gericht entscheidet in Kürze, ob die Partei offiziell verboten wird.

Aus taktischen Gründen verzichtet die HDP deshalb auf einen eigenen Präsidentschaftskandidaten und hat ihren Anhängern empfohlen, stattdessen den Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu (74) zu wählen. Kilicdaroglu, selbst Angehöriger der alevitischen Minorität in der Türkei, verspricht: keine Diskriminierung mehr gegenüber Minderheiten in der Türkei.

Die geschickte Wahltaktik der Kurden

Gut so, findet Giyasettin Altun (66). Der pensionierte Imam der Moschee in Menemen steht an der stark befahrenen Hauptstrasse der Stadt. In die warme Mittagsluft mischt sich Staub und der Ruf des Muezzins. Hinter Altun sind farbige Fähnchen über die Strasse gespannt. Buddhistische Friedenswimpel? Nein, türkische Wahlpropaganda. Aufgehängt hat sie die Partei «Grüne Linke», die den kurdischen HDP-Kandidaten für die ebenfalls heute stattfindenden Parlamentswahlen politisches Asyl gewährt hat. «Die werde ich wählen, wie fast alle Kurden hier», sagt Altun.

Präsident Erdogan müsse weg. Er halte das Schicksal des kurdischen Volks, ja des ganzen 86-Millionen-Lands in seinen Fäusten. «Er sperrt unsere Leute ein, wirft unsere Anführer ins Gefängnis.» Die «Arbeiterpartei Kurdistans» (PKK) verteufle er als Terroristen, jetzt knöpfe er sich die anderen Kurdenparteien vor. «Was haben wir denn verbrochen?», fragt Altun und hebt seine mächtigen Hände in die Luft. «Wir sind Brüder, wir müssen doch miteinander auskommen. Stattdessen erachtet uns diese Regierung als Bürger zweiter, ja sogar dritter Klasse.» Das akzeptiere er nicht länger.

Möglicherweise muss er das auch nicht. Kemal Kilicdaroglu liegt laut jüngsten Umfragen hauchdünn vor Erdogan – dank der Stimmen der Kurden. Der politische Racheakt könnte tatsächlich gelingen.

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