«Politisch motiviertes Urteil»
Russland lehnt Schuldspruch zu MH17-Abschuss ab

Vor acht Jahren wurde der Flug MH17 über der Ostukraine abgeschossen – 298 Menschen starben. Am Donnerstag wurden nun zwei Russen und ein Ukrainer schuldig gesprochen. Während Selenski fordert, dass Russland büssen soll, lehnt der Kreml das Urteil ab.
Publiziert: 17.11.2022 um 12:40 Uhr
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Aktualisiert: 17.11.2022 um 19:25 Uhr

Es war ein strahlender Sommertag, als die Boeing 777 der Malaysia Airlines mit Flugnummer MH17 am 17. Juli 2014 vom Amsterdamer Flughafen Schiphol abhob. 12:31 Uhr. Keine drei Stunden später war die Maschine explodiert. Alle 298 Menschen an Bord waren tot.

In gut zehn Kilometer Höhe über umkämpftem Gebiet in der Ostukraine war um 15.20 Uhr an der linken Seite des Cockpits eine Rakete explodiert. Hunderte kleinste Teilchen hatten das Flugzeug durchbohrt. Jedes einzelne ein tödliches Geschoss. Am Donnerstag wird ein Strafgericht in den Niederlanden sein Urteil gegen vier mutmassliche Täter verkünden – allerdings in Abwesenheit der Angeklagten. Die Anklage lautet auf Mord in 298 Fällen. Die Staatsanwaltschaft forderte lebenslange Haftstrafen.

Gericht hält es für unwahrscheinlich, dass die Verurteilten die Strafe verbüssen

Wie das niederländische Gericht am Donnerstag verkündet, sei die Maschine eindeutig mit einer russischen Luftabwehrrakete vom Typ Buk abgeschossen worden. «Das Gericht ist der Meinung, dass MH17 durch den Abschuss einer BUK-Rakete von einem Acker in der Nähe von Pervomaisk zum Absturz gebracht wurde», sagte der vorsitzende Richter Hendrik Steenhuis.

Acht Jahre und vier Monate ist es her, dass der Flug MH17 über der Ostukraine abgeschossen wurde.
Foto: keystone-sda.ch
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Die Angeklagten hatten damals hohe Funktionen bei den prorussischen Separatisten in der Ostukraine. Dabei handelt es sich um drei Russen und einen Ukrainer, die sich wegen Mordes in 298 Fällen verantworten mussten. Wie das Haager Gericht am Donnerstag mitteilte, wurden drei der vier Angeklagten für schuldig gesprochen, die MH17 zerstört und 298 getötet zu haben, so der Richter. Sie wurden zur Höchststrafe für Mord in 298 Fällen zu lebenslanger Haft verurteilt.

Dabei handelt es sich um Igor Girkin, ehemaliger russischer Geheimdienstoffizier und Kommandant der Separatisten im Donbass, Sergej Dubinski, ein früherer russischer Offizier und Stellvertreter Girkins sowie den Ukrainer Leonid Chartschenko, der eine Kampfeinheit in der Region geleitet haben soll. Das Strafmass stand zunächst noch aus. Das Gericht befand den angeklagten Russen Oleg Pulatow jedoch für nicht schuldig und lehnte Antrag der Staatsanwaltschaft ab, ihn ins Gefängnis zu stecken, so der Richter.

Selenski will, dass Russland zur Verantwortung gezogen wird

Es gilt als unwahrscheinlich, dass die Verurteilten ihre Strafe auch verbüssen werden. Sie sollen sich in Russland aufhalten. Das Land wird sie nach Einschätzung von Experten nicht ausliefern. Moskau erkennt das Gericht nicht an und weist jegliche Mitverantwortung an dem Abschuss zurück.

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Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat den Urteilsspruch zum Abschuss des malaysischen Passagierflugs MH17 über der umkämpften Ostukraine als «wichtig» bezeichnet. «Doch ist es notwendig, auch die Auftraggeber zur Rechenschaft zu ziehen», schrieb der 44-Jährige am Donnerstag auf Twitter und machte deutlich, dass er die russische Führung in der Verantwortung sieht. Straflosigkeit würde zu neuen Straftaten führen, fügte er in Anspielung auf den russischen Angriffskrieg gegen sein Land hinzu.

Russland dagegen hat den Schuldspruch eines niederländischen Gerichts zum Abschuss der Passagiermaschine MH17 über der Ostukraine im Jahr 2014 als politisch motiviert zurückgewiesen. «Sowohl der Verlauf als auch die Ergebnisse der Verhandlung zeugen davon, dass ihr der politische Auftrag zugrunde lag, die Version (...) von einer Beteiligung Russlands an der Tragödie zu stärken», teilte das russische Aussenministerium am Donnerstag auf seiner Homepage mit.

«Wir haben acht Jahre und vier Monate gewartet»

Besonders die Hinterbliebenen erhofften sich, durch den Prozess am Donnerstag endlich Gerechtigkeit zu erlangen. So auch Piet Ploeg. An Bord waren sein Bruder Alex, seine Schwägerin Edith und ihr 21 Jahre alter Sohn Robert. Später an dem Tag drang es zu ihm durch: «Sie sind weg, für immer. Und das zerreisst dir das Herz.»

Ploeg war am Donnerstag im Gerichtssaal am Amsterdamer Flughafen Schiphol anwesend. Dort war seit März 2020 der Strafprozess gegen die vier Männer, die für den Abschuss verantwortlich sein sollen, geführt worden. «Wir haben acht Jahre und vier Monate auf diesen Tag gewartet», sagt Ploeg. Er ist auch Sprecher der Hinterbliebenen. «Wir hoffen, dass es ein Tag der Gerechtigkeit wird.»

Die Opfer kamen aus zehn Ländern, vier davon aus Deutschland. Da die meisten Niederländer waren, findet der Prozess dort statt. Hunderte Angehörige waren bei der Urteilsverkündung zugegen sein, davon etwa 80 aus Australien.

«Kein Staat darf mit Massenmord davonkommen»

Nach dem Abschuss lagen noch Wochen Trümmer, Gepäckstücke und Leichenteile in einem rund 50 Quadratkilometer grossen Gebiet zwischen Sonnenblumenfeldern. Aus den Trümmern war später in den Niederlanden die Maschine rekonstruiert worden, für die Ermittler und Richter. Keiner der Angeklagten erschien jemals im Gericht. Nur einer, Pulatov, hatte sich verteidigen lassen. «Er weist jede Verantwortung zurück», erklärten seine Anwälte und forderten einen Freispruch.

Die Angehörigen erhofften sich am Donnerstag vor allem Antwort auf die Frage: Was hat Russland mit dem Abschuss zu tun? Die Frage sei fast noch wichtiger als die der Rolle der Angeklagten, sagt Ploeg. «Denn kein Staat darf mit Massenmord davonkommen.» Nachdem das niederländische Gericht am Donnerstag nun verkündet hat, dass die Tragödie eindeutig durch eine russische Rakete ausgelöst wurde, ist diese Frage nun geklärt.

Abschüsse von Passagierflugzeugen

Juli 2014, Osten der Ukraine, 298 Tote

Am 17. Juli 2014 stürzt im Osten der Ukraine eine Boeing 777 der Fluggesellschaft Malaysia Airlines ab. Alle 298 Insassen kommen ums Leben. Wie eine internationale Untersuchung zeigt, wurde der Flug MH17 mit einer BUK-Rakete sowjetischer Bauart gezielt abgeschossen. Die Boeing 777 befand sich auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur und überflog das Konfliktgebiet im Osten der Ukraine, in dem sich prorussische Separatisten und die ukrainische Armee bekämpfen. Die Separatisten leugnen den Abschuss. Die BUK-Rakete stammte von der 53. russischen Flugabwehrbrigade in Kursk im Südwesten Russlands. Drei Russen und ein Ukrainer sollen sich ab März für den Abschuss verantworten. Der Prozess in den Niederlanden dürfte in Abwesenheit der Beschuldigten stattfinden.

Oktober 2001, Schwarzes Meer, 78 Tote

Am 4. Oktober 2001 explodiert eine Tupolew-154 der russischen Fluggesellschaft Siberia Airlines über dem Schwarzen Meer, knapp 300 Kilometer vor der ukrainischen Halbinsel Krim. Alle 78 Insassen, vor allem Israelis, kommen ums Leben. Die Maschine war von Tel Aviv nach Nowosibirsk in Sibirien unterwegs. Eine Woche nach dem Unglück gesteht die Ukraine ein, dass das Flugzeug von einer versehentlich abgeschossenen ukrainischen Rakete vom Himmel geholt wurde.

Juli 1988, Persischer Golf, 290 Tote

Am 3. Juli 1988 wird ein Airbus A-300 der Fluggesellschaft Iran Air kurz nach dem Start in Bandar-Abbas über dem Persischen Golf abgeschossen. Alle 290 Insassen kommen ums Leben. Die Maschine war vom Süden Irans Richtung Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten unterwegs. Die Besatzung der US-Fregatte «USS Vincennes» räumt ein, den Airbus bei einer Patrouillenfahrt in der Meerenge von Hormus für einen iranischen Kampfjet gehalten und mit zwei Raketen abgeschossen zu haben. Die USA zahlen an den Iran eine Entschädigung von gut 101 Millionen Dollar.

September 1983, Russland, 269 Tote

In der Nacht zum 1. September 1983 wird eine Boeing 747 der südkoreanischen Fluglinie Korean Air Lines (KAL) über der Insel Sachalin im fernen Osten Russlands abgeschossen. Alle 269 Insassen kommen ums Leben. Die sowjetische Luftwaffe erklärt nach starkem internationalem Druck und einer Verurteilung durch den UN-Sicherheitsrat mit fünf Tagen Verspätung, dass die Boeing von Jagdflugzeugen abgeschossen wurde, weil sie von ihrer Flugroute abgekommen sei.

Februar 1973, Sinai-Halbinsel, 108 Tote

Am 21. Februar 1973 schiessen israelische Kampfjets über der damals von Israel besetzten Sinai-Halbinsel eine libysche Boeing 727 ab, die eigentlich von Tripolis nach Kairo fliegen sollte, aber vom Kurs abgekommen war. 108 der 112 Insassen der Maschine kommen ums Leben. Die israelische Regierung erklärt, die libysche Boeing sei über israelische Militäranlagen geflogen und habe eine Aufforderung zur Landung zurückgewiesen. (SDA)

Juli 2014, Osten der Ukraine, 298 Tote

Am 17. Juli 2014 stürzt im Osten der Ukraine eine Boeing 777 der Fluggesellschaft Malaysia Airlines ab. Alle 298 Insassen kommen ums Leben. Wie eine internationale Untersuchung zeigt, wurde der Flug MH17 mit einer BUK-Rakete sowjetischer Bauart gezielt abgeschossen. Die Boeing 777 befand sich auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur und überflog das Konfliktgebiet im Osten der Ukraine, in dem sich prorussische Separatisten und die ukrainische Armee bekämpfen. Die Separatisten leugnen den Abschuss. Die BUK-Rakete stammte von der 53. russischen Flugabwehrbrigade in Kursk im Südwesten Russlands. Drei Russen und ein Ukrainer sollen sich ab März für den Abschuss verantworten. Der Prozess in den Niederlanden dürfte in Abwesenheit der Beschuldigten stattfinden.

Oktober 2001, Schwarzes Meer, 78 Tote

Am 4. Oktober 2001 explodiert eine Tupolew-154 der russischen Fluggesellschaft Siberia Airlines über dem Schwarzen Meer, knapp 300 Kilometer vor der ukrainischen Halbinsel Krim. Alle 78 Insassen, vor allem Israelis, kommen ums Leben. Die Maschine war von Tel Aviv nach Nowosibirsk in Sibirien unterwegs. Eine Woche nach dem Unglück gesteht die Ukraine ein, dass das Flugzeug von einer versehentlich abgeschossenen ukrainischen Rakete vom Himmel geholt wurde.

Juli 1988, Persischer Golf, 290 Tote

Am 3. Juli 1988 wird ein Airbus A-300 der Fluggesellschaft Iran Air kurz nach dem Start in Bandar-Abbas über dem Persischen Golf abgeschossen. Alle 290 Insassen kommen ums Leben. Die Maschine war vom Süden Irans Richtung Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten unterwegs. Die Besatzung der US-Fregatte «USS Vincennes» räumt ein, den Airbus bei einer Patrouillenfahrt in der Meerenge von Hormus für einen iranischen Kampfjet gehalten und mit zwei Raketen abgeschossen zu haben. Die USA zahlen an den Iran eine Entschädigung von gut 101 Millionen Dollar.

September 1983, Russland, 269 Tote

In der Nacht zum 1. September 1983 wird eine Boeing 747 der südkoreanischen Fluglinie Korean Air Lines (KAL) über der Insel Sachalin im fernen Osten Russlands abgeschossen. Alle 269 Insassen kommen ums Leben. Die sowjetische Luftwaffe erklärt nach starkem internationalem Druck und einer Verurteilung durch den UN-Sicherheitsrat mit fünf Tagen Verspätung, dass die Boeing von Jagdflugzeugen abgeschossen wurde, weil sie von ihrer Flugroute abgekommen sei.

Februar 1973, Sinai-Halbinsel, 108 Tote

Am 21. Februar 1973 schiessen israelische Kampfjets über der damals von Israel besetzten Sinai-Halbinsel eine libysche Boeing 727 ab, die eigentlich von Tripolis nach Kairo fliegen sollte, aber vom Kurs abgekommen war. 108 der 112 Insassen der Maschine kommen ums Leben. Die israelische Regierung erklärt, die libysche Boeing sei über israelische Militäranlagen geflogen und habe eine Aufforderung zur Landung zurückgewiesen. (SDA)

Mehr

Der Fall MH17 war seit dem tragischen 17. Juli 2014 auch eine hochbrisante politische Frage. Russland sitzt nun zwar nicht auf der Anklagebank. Doch könnte das Gericht indirekt eine Verantwortung feststellen. «Unsere Angehörigen waren die ersten internationalen Opfer des Ukraine-Krieges», sagt Ploeg.

Damals tobten im ostukrainischen Donbass bereits Kämpfe. Internationale Ermittler stellten fest, dass die Buk-Rakete aus Russland kam und der russischen Armee gehörte. Sie war den Ermittlern zufolge von einem Feld abgeschossen worden, das von den Rebellen kontrolliert wurde. Moskau hatte bisher alle Vorwürfe entschieden zurückgewiesen und stattdessen vor allem die Ukraine für die Tragödie verantwortlich gemacht.

Juristin rechnet mit weiteren Verfahren

Eine entscheidende Frage ist, ob die Strafrichter der Argumentation der Anklage folgen werden. Klar ist, dass die vier angeklagten Männer nicht selbst auf den Knopf gedrückt haben. Mit einer Beweiskette aber legten die Ankläger dar, dass sie für die Beschaffung der Waffe und den Abschuss gesorgt hätten. «Nach der Argumentation der Anklage nahmen sie dabei in Kauf, dass sie auch ein ziviles Flugzeug treffen konnten», sagt die Juristin Marieke de Hoon.

Die Anklage legte eine Fülle an Beweisen vor, Fotos, Videos, Daten, Funkverkehr, Satellitenaufnahmen. Doch viele der Beweise stammen aus offenen Quellen oder von sozialen Medien. «Diese digitalen Beweise sind juristisches Neuland», sagt De Hoon. «Eine Anerkennung kann wichtig sein für andere Prozesse zu Kriegsverbrechen.»

Das Urteil wird nicht das letzte Wort im Verfahren zu Flug MH17 sein. Die Juristin De Hoon rechnet mit einer anschliessenden Berufung und weist auch auf weitere Verfahren hin, wie etwa vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Doch Ploeg hofft für die Angehörigen auf eine Zäsur. «Ich hoffe, dass viele nun Abstand gewinnen können», sagt er. «Doch das Kapitel abschliessen, das kann nie geschehen.» (SDA/chs/dzc)

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