Deshalb kam es in Tunesien zu Demonstrationenn
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Parlament entmachtet:Deshalb kam es in Tunesien zu Demonstrationen

Präsident wirft Ministerpräsident raus – Blick erklärt die Gefahr der Krise
Kann ich in Tunesien nun noch Ferien machen?

Die junge Demokratie Tunesien steckt in der grössten Krise seit dem Arabischen Frühling von 2011. Präsident Kais Saied hat den Ministerpräsidenten und das Parlament entmachtet, um den Reset-Knopf zu drücken. Blick erklärt, was läuft und wie es weitergeht.
Publiziert: 27.07.2021 um 19:15 Uhr
Guido Felder

Was passiert gerade in Tunesien?
Präsident Kais Saied (63) hat am Sonntag den parteilosen, erst seit knapp einem Jahr amtierenden Ministerpräsidenten Hichem Mechichi (47) sowie weitere Minister überraschend abgesetzt. Zudem hat er die Immunität aller Abgeordneten aufgehoben und das Parlament für 30 Tage geschlossen. In der Nacht auf Montag kam es darauf zu Demonstrationen.

Warum kam es dazu?
Präsident Saied drückt damit praktisch den Reset-Knopf. Er liefert sich seit Monaten einen Machtkampf mit der islamisch-konservativen Ennahda-Partei. Diese ist mit knapp 20 Prozent stärkste Kraft im Parlament, in breiten Teilen der Bevölkerung aber unbeliebt. Saied streitet mit dem nun abgesetzten Mechichi sowie mit Parlamentspräsident und Ennahda-Chef Rached Ghannouchi (80) darüber, wie die Macht zwischen Präsident, Regierung und Parlament verteilt werden soll.

Warum erfolgt die Entlassung gerade jetzt?
Tunesien hat drei akute Probleme. Die Korruption ist massiv, viele Parlamentarier schauen nur für sich und sind aus unerklärlichen Gründen plötzlich sehr reich geworden. Mit der Aufhebung der Immunität können pendente juristische Verfahren weitergeführt werden. Die beiden weiteren grossen Probleme sind die wachsende Armut und das marode Gesundheitswesen, das gerade in der Pandemie für desolate Zustände sorgt. Der Sonntag war zudem der Tag der Republik, viele Menschen demonstrierten auf der Strasse.

In der Nacht auf Montag feierten Anhänger von Präsident Kais Saied die Absetzung des Ministerpräsidenten.
Foto: keystone-sda.ch
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Wie reagieren die Tunesier?
Der überraschende Zug Saieds trieb seine Unterstützer in der Nacht trotz einer Corona-Ausgangssperre zu Jubelfeiern auf die Strasse. Sie zündeten Leuchtfeuer und Feuerwerk, hupten in Autos, schwenkten Fahnen und sangen die Nationalhymne.

Handelt es sich um einen Putsch?
Nein. Die Verfassung des neuen Tunesien hält in Artikel 80 fest, dass der Präsident bei «Gefahr für Einheit, Sicherheit und Unabhängigkeit des Landes» aussergewöhnliche Massnahmen ergreifen könne. Der 2019 mit breiter Zustimmung gewählte Saied versicherte denn auch, es handle sich um keinen «Putsch», und er wolle «keinen einzigen Tropfen Blut vergiessen». Gewalt werde aber umgehend mit Gewalt der Sicherheitskräfte beantwortet.

Kommt es zu Unruhen?
Eine Eskalation von Seiten der unterlegenen Islamisten kann nicht ausgeschlossen werden. Laut dem tunesisch-schweizerischen Autor Amor Ben Hamida (63), der als Kulturvermittler zwischen Nordafrika und Europa arbeitet, ist die Gefahr allerdings klein, da die Mehrheit des Volks sowie auch das Militär hinter Präsident Saied stehen.

Kann man noch Ferien machen?
Laut Tui kommt es zu keinen Beeinträchtigungen oder Leistungseinschränkungen in den touristischen Zonen. Es sei aber damit zu rechnen, dass die Sicherheitsvorkehrungen im ganzen Land erhöht würden. Tui empfiehlt daher Reisenden, Demonstrationen und grössere Menschenansammlungen zu meiden.

Wer soll schlichten?
Der tunesische Analyst Selim Kharat glaubt, nur ein unabhängiges Verfassungsgericht könne die gefährliche Situation entschärfen. Das Problem: Bisher konnten sich die Parteien nicht auf die Ernennung der Richter einigen. Als Mediatorin steht auch die mächtige Gewerkschaft UGTT zur Diskussion.

Wie geht es weiter?
Der Präsident wird in den nächsten Tagen einen neuen Regierungschef bestimmen. Laut Amor Ben Hamida wird das kein typischer Politiker sein, sondern eher ein Macher, der mit einer Expertenregierung das Land führen wird, bis die Krise überwunden ist. Wegen der Aufhebung der Immunität wird erwartet, dass einige Parlamentarier wegen der drohenden Ermittlungen ins Ausland fliehen werden.

Wann wird Tunesien definitiv zur Demokratie?
Die Vorkommnisse sind für die Demokratie ein Rückschlag. Tunesien hat als einziges Land in der Region nach den Aufständen von 2011, bei denen Langzeitherrscher Zine El Abidine Ben Ali (1936–2019) gestürzt wurde, den Übergang zur Demokratie geschafft. Seitdem gab es aber mehr als zehn Regierungswechsel, und das Misstrauen gegenüber der Politik ist gross. Amor Ben Hamida: «Ein Land kann Demokratie nicht innerhalb von nur zehn Jahren lernen. Andere Länder haben dazu auch Jahrzehnte gebraucht.»

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