Mutter beschreibt die dramatische Flucht aus Kiew
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Mit Hilfe von Elitesoldaten:Mutter beschreibt die dramatische Flucht aus Kiew

«Plötzlich hiess es: Ihr habt zwei Stunden»
Familie Frey von Schweizer Elitesoldaten aus Kiew evakuiert

Als das Ehepaar Frey in die Ukraine reisen muss, ahnt es nicht, dass es zwischen den Kriegsfronten stehen wird. Dank des Schweizer Botschafters und Elitesoldaten ist es jetzt wieder zu Hause. Blick erzählt das Paar von der Flucht aus Kiew.
Publiziert: 21.03.2022 um 00:39 Uhr
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Aktualisiert: 21.03.2022 um 18:02 Uhr
Sven Ziegler

Endlich sitzen sie zu Hause. In der warmen Stube, mit einem Dach über dem Kopf. Familie Frey ist wieder im Kanton Aargau angekommen. Nach fast zwei Wochen in der Ukraine – mitten im Krieg. Dass sie heute wieder hier sitzen, so sagen sie, verdanken sie den Elitesoldaten der Schweizer Armee. Und Botschafter Claude Wild, der die Familie mitsamt dem wenige Tage alten Baby Cristiano in seinem Konvoi aus dem Kriegsgebiet evakuieren lässt.

Rückblende: Als Mercedes Ferreira-Frey (52) und ihr Mann Roland (46) Mitte Februar nach Kiew fliegen, sind die Spannungen zwischen Russland und der Ukraine bereits deutlich spürbar. Erste Reisewarnungen werden ausgesprochen. Doch Freys müssen in die Ukraine. Eine Leihmutter wird ihnen ein Kind schenken – mehr als zwei Wochen früher als geplant. Zu ihrem Glück, wie sie heute sagen. Zwei Tage nach der Geburt hält Mercedes den kleinen Cristiano zum ersten Mal in ihren Armen.

«Es gibt kein Durchkommen. Es herrscht Krieg»

Rund sieben Wochen plant die gebürtige Portugiesin, in der ukrainischen Hauptstadt zu verbringen. Doch kurz nach ihrer Einreise verhängt die Swiss einen Flugstopp. «Da haben wir uns schon Gedanken gemacht. Aber in Kiew lief das Leben ganz normal weiter, es herrschte noch kein Krieg», erinnert sich Roland Frey im Gespräch mit Blick.

Nach fast zwei Wochen in der Ukraine ist Familie Frey wieder zu Hause.
Foto: Nathalie Taiana
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Am Donnerstag, 24. Februar, erwartet das Ehepaar den Besuch einer Ärztin. Sie taucht nicht auf. «Stattdessen hatte ich eine Nachricht auf meinem Handy. ‹Es gibt für mich kein Durchkommen mehr, die Strassen sind blockiert. Es herrscht Krieg.›» Es ist der Tag des Einmarschs.

Umgehend geht das Ehepaar einkaufen, legt sich einen Notvorrat an. «Das Leben ist trotz Kriegsausbruch sehr gesittet weitergegangen. Die U-Bahnen und Busse sind ganz normal gefahren», erinnert sich Roland Frey. Doch die Kämpfe toben. In der Nacht hallen Schüsse durch die Strassen vor ihrer Wohnung.

Elitesoldaten evakuieren Schweizer Paar aus Kiew
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Nach Angriff durch Russland:Elitesoldaten evakuieren Schweizer Paar aus Kiew

Licht bedeutet Leben

Die frischgebackene Mutter schläft nur noch wenig, ist immer wachsam. Roland Frey verliert innert einer Woche sechs Kilo Gewicht. «Ich hatte keinen Appetit. Man funktioniert als Mensch nur noch.»

Freys setzen sich mit der Schweizer Botschaft in Verbindung. Sie wollen raus aus dem Land. «Plötzlich wurde über Kiew eine Ausgangssperre verhängt. Wir kamen nicht mehr aus der Wohnung», sagt Roland Frey. Seine Ehefrau erinnert sich an die heftigen Gefechte: «Als die Ausgangssperre aufgehoben wurde, haben wir via Google Maps eine Route zum Bahnhof gesucht. Doch diese war durch schiessende Panzer versperrt. Wir hatten keine Chance, durchzukommen.» Mercedes Ferreira-Frey hält sich in dieser Zeit, so sagt sie, «mit banalen Dingen» bei klaren Gedanken: «Ich habe das Haus gegenüber beobachtet. Am Abend ging immer das Licht an. Da wusste ich, dass noch anderswo Leben ist.»

Parallel dazu organisieren sie mit den Schweizer Botschaftsmitarbeitern die Ausreise. Das Kind, aufgrund des Kriegs noch ohne Papiere, erhält «innert weniger Stunden» einen Passierschein. Ein erster Konvoi mit Schweizern reist noch ohne Familie Frey ab. Das Quartier, in dem sie sich aufhalten, ist für die Botschaftsmitarbeiter nicht zu erreichen. Zu gefährlich.

Zwei alte Frauen helfen entscheidend

Freys warten weiter. Vier lange Tage. Bis sich am 28. Februar ein Korridor öffnet. Vom Botschaftspersonal erhalten sie um 15 Uhr ein Telefon. Um 17 Uhr verlasse der Botschafter Claude Wild, begleitet von einer militärischen Spezialeinheit, das Land. Bis dann müssten sie bei der Botschaft sein. Zwei Stunden. Für knappe neun Kilometer durchs Kriegsgebiet.

Auf der Strasse vor dem Haus werden zwei alte Frauen auf das Paar mit dem Baby aufmerksam. Irgendwie schaffen sie es, sich mit ihnen zu verständigen. Dann passiert Unglaubliches: «Die beiden Frauen, beide über 70 Jahre alt, stellten sich mitten auf die Strasse und hielten ein Auto an.» Nach kurzem Hin und Her öffnet der angehaltene Mann seinen Kofferraum. «In gebrochenem Englisch meinte er: Ich bringe euch zur Botschaft.»

Als das Auto kurz vor 17 Uhr bei der Botschaft eintrifft, jubelt Mercedes Frey. «Ich war so erleichtert.» Zehn Minuten später rollt der Konvoi los. Mit Schweizer Flaggen auf dem Dach und an den Fenstern, zur Sicherheit der Passagiere. Die Stimmung ist zunächst gespenstisch, keiner in den Autos spricht. «Wir waren noch nicht in Sicherheit. Aber wir merkten schnell: Das Botschaftspersonal und die Soldaten sind absolute Vollprofis», erinnert sich Roland Frey. Tatsächlich werden Botschafter Wild und die Familie von einer Eliteeinheit des Militärs begleitet. Sie ist für solche Missionen ausgebildet.

«Werden ihm einiges zu erzählen haben»

Zwei Tage ist der Konvoi unterwegs. Dann überquert er die Grenze nach Moldawien. Dort entsteht plötzlich eine Diskussion. Roland Frey soll an der Grenze genauer unter die Lupe genommen worden. Der Botschafter schaltet sich ein und sorgt persönlich dafür, dass Frey weiterreisen darf. Von Moldawien fahren die Autos weiter nach Rumänien. Von dort bringt ein Flieger die Evakuierten zurück in die Schweiz. Nach knapp zwei Wochen kehren Freys wieder nach Hause zurück.

Wenn sie zurückblicken, quält das Paar vor allem eine Frage: Wie es den beiden alten Frauen oder dem Mann, der sie zur Botschaft gefahren hat, heute gehe. Mercedes Ferreira-Frey: «Ich habe Tagebuch geführt in dieser Zeit, um meine Gedanken zu sortieren. Wir werden unserem Cristiano später einiges zu erzählen haben.»

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