Notizen aus dem Ukraine-Krieg
Das erschütternde Tagebuch von Valentyna K.

Die ukrainische Unternehmerin Valentyna K. (34) berichtet für SonntagsBlick über ihre Woche im Kriegsgebiet. Dramatische Zeilen über Bomben, Flucht und Hoffnung.
Publiziert: 06.03.2022 um 01:10 Uhr
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Aktualisiert: 06.03.2022 um 15:42 Uhr
Fabian Eberhard

Montag, 28. Februar – Überleben

Die Nacht in der Garage hier in Kiew war eisig kalt. Null Grad. Ich habe Skiunterwäsche an, alle husten. Aber ich lebe. Ich weiss nicht, ob das morgen auch noch so sein wird. Ein 64 Kilometer langer Militärkonvoi der Russen rollt auf unsere Stadt zu. Seit der Invasion verschwimmen die Wochentage. Wir reden nicht mehr von Montag oder Dienstag. Heute ist einfach Tag fünf – Tag fünf seit dem Angriff. Ich habe trotz Kälte geschlafen. Ich staune, wie schnell sich der Mensch sogar an Krieg gewöhnen kann. Am ersten Tag hatte ich Panik, wenn die Sirenen losgingen. Heute bleibe ich ruhig. Ich kann ja sowieso nicht mehr tun, als mich in der Garage zu verstecken. Am Morgen ging ich sogar kurz zurück in meine Wohnung. Der Krieg hat meinen Sinn für Glück verändert. Kleine Dinge erfreuen mich. Die Dusche heute und der Borschtsch – die Suppe –, den ich mir gekocht habe. Aber ich habe Angst vor der Nacht. Wir erwarten heftige Bombardements. Am schlimmsten ist es jeweils am frühen Morgen, gegen fünf Uhr.

Dienstag, 1. März –Warten auf die Schlacht

Tag sechs. Der härteste Tag bis jetzt. Heute ist meteorologischer Frühlingsanfang, aber draussen hat es zu schneien begonnen. In der Stadt haben nur noch wenige Geschäfte geöffnet, vor den Einkaufsläden bilden sich lange Schlangen. Die Menschen decken sich mit Notvorräten ein. Sie wappnen sich für die Schlacht um Kiew. Ich versuche mich abzulenken, mit Musik, mit Lesen. Es funktioniert nicht. Draussen beschiessen Putins Truppen den Fernsehturm. Es ist schwierig, das Gefühlschaos in mir zu beschreiben. Diese Mischung aus Angst, Erschöpfung und Hoffnung, dass ich den nächsten Tag erlebe. Heute wäre der Geburtstag meines Grossvaters. Er starb vor acht Jahren. Ich konnte sein Grab nicht besuchen. Es steht in Donezk in der Ostukraine, wo seit 2014 Krieg herrscht. Ich telefoniere mit meinen Eltern. Ich vermisse sie so sehr. Sie leben 500 Kilometer entfernt in Dnipro.

Mittwoch, 2. März – Die Flucht

Kurz nach dem Aufwachen heute realisierte ich, wie sehr ich psychisch am Ende bin. Am Mittag ging ich mit einem Rucksack zum Bahnhof. Ich wollte zu meinen Eltern fahren. Aber sämtliche Züge nach Dnipro fielen aus. Per Zufall traf ich am Bahnhof einen Freund. Ich kenne ihn vom Triathlon. Auch er wollte zu seinen Eltern. Aber das Dorf, wo sie leben, ist mittlerweile von den Russen besetzt. Als wir am Gleis acht vorbeigingen, stand da ein Zug nach Lwiw, eine Stadt im Westen der Ukraine, nahe der polnischen Grenze – wir stiegen einfach ein. Es ist verrückt: Jetzt bin ich plötzlich in Lwiw, weit weg von zu Hause. Kaum angekommen, machte die Nachricht die Runde, dass wenige Meter neben dem Bahnhof in Kiew eine Rakete eingeschlagen hat. Es gab Schäden und Verletzte. Ich bin froh, nicht mehr in Kiew zu sein. Hier sind wir sicherer.

Zerstörte Häuser in der ukrainischen Stadt Tschernihiw nach einem russischen Raketenangriff
Foto: keystone-sda.ch
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Donnerstag, 3. März – Der Zusammenbruch

Die erste Nacht ohne Sirenen. Wie schön Stille sein kann. Wir konnten in Lwiw eine kleine Wohnung mieten. Die Stadt ist voll von Menschen aus allen Ecken der Ukraine. Viele wollen weiter nach Polen oder Westeuropa. Heute hat die Uno eine Million Flüchtlinge gemeldet. Eine Million! Was für ein Wahnsinn. Nun, da der Stress zum ersten Mal etwas nachlässt, fühle ich mich komplett am Ende. Ein regelrechter Zusammenbruch. Ich liege einfach da, starre die Wand an.

Freitag, 4. März – Neue Normalität

Zum ersten Mal seit Kriegsbeginn versuchte ich heute, normal zu leben. Aber das normale Leben wird nie wieder zurückkehren. Ich bin traumatisiert. In der Nacht schreckte ich beim kleinsten Geräusch auf, hörte erstarrt hin: Ist das nur der Stadtlärm oder sind es Schüsse? Knallt jemand die Türe zu, zucke ich zusammen. Die Bomben sind in meinem Kopf. Es ist absurd, aber heute nahm ich Onlineflötenunterricht. So wie ich es vor dem Krieg jede Woche tat. Bei der Flucht aus Kiew habe ich vergessen, eine Zahnbürste mitzunehmen. Aber meine Flöte habe ich eingepackt. Meine Mutter hat mir dazu geraten. Zum Glück habe ich auf sie gehört. Die Flöte ist eine Zauberflöte! Beim Spielen konnte ich zum ersten Mal kurz abschalten. Durchatmen. Meine Lehrerin gibt den Onlinekurs neu gratis. Das sei ihr Beitrag an die Situation.

«Im Minutentakt kommen neue Flüchtlinge an»
7:48
Blick-Reporter an der Grenze:«Im Minutentakt kommen neue Flüchtlinge an»

Samstag, 5. März – Hoffnung

Tag zehn. Zehn Tage Krieg, Zerstörung, Leid. Jede Sekunde tut weh. Ich fühle mich, als wäre ich in diesen zehn Tagen zehn Jahre gealtert. Aber ich habe Hoffnung: Niemand hat mit der Stärke von uns Ukrainerinnen und Ukrainern gerechnet. Ich vertraue unseren Soldaten. Und glaube an den Sieg. Durch diesen Krieg werden wir hilfsbereiter, grosszügiger und unabhängiger denn je. Ich träume vom Tag, an dem ich nach Hause zurückkehre. Wir werden unser Land wieder aufbauen. Als ich zwischen den Raketenangriffen vor ein paar Tagen kurz zurück in meine Wohnung in Kiew ging, erinnerten mich zwei Dinge an die Zeit vor dem Krieg: gelbe Tulpen und ein Kleid, das ich mir für eine Theaterpremiere bereitgelegt hatte. Die Premiere hätte an jenem Tag stattgefunden, an dem die ersten Raketen in Kiew einschlugen. Ich habe Fotos vom Kleid und von den Tulpen gemacht. Als Erinnerung daran, was ich am Tag des Sieges tragen werde. Und welche Blumen ich am Denkmal für die Opfer dieses Krieges ablegen werde.

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