Netanyahus Richter-Klatsche
Israels Exodus: 2,5 Millionen Israelis haben genug

Jeder Dritte im Land will die demokratiefeindlichen Neuerungen der Regierung nicht hinnehmen. Und auch der mächtige Verbündete Amerika reagiert verschnupft. Mit seiner provokativen Sommerlektüre macht Regierungschef Netanyahu alles noch schlimmer.
Publiziert: 30.07.2023 um 10:13 Uhr
|
Aktualisiert: 30.07.2023 um 10:16 Uhr
Blick_Portraits_328.JPG
Samuel SchumacherAusland-Reporter

Israels Rekord-Regierungschef Benjamin Netanyahu (73) hat sein Land an den Rand des Kollapses geführt.

Das zumindest finden die Hunderttausenden Demonstranten, die auf den Strassen des Kleinstaates gegen Netanyahus Justizreform anschreien. Und auch wenn der Premierminister und seine Diplomaten die Wogen zu glätten versuchen – «Die Menschen schreiben die israelische Demokratie viel zu schnell ab», sagte Botschafterin Ifat Reshef (54) diese Woche zur Blick-Gruppe –, der Entscheid vom Montag räumt eine der letzten Kontrollinstanzen aus dem Weg, die Netanyahus Regierungsbündnis noch an der Umsetzung seiner radikalen Umbaupläne hinderte.

Zweieinhalb Millionen Israelis überlegen sich auszuwandern

Bis heute hat Israel keine Verfassung. Und anders als die Schweiz, wo sich National- und Ständerat gegenseitig auf die Finger schauen, hat Israel nur eine einzige Parlamentskammer, in der mit einer einfachen Mehrheit neue Gesetze beschlossen werden können. Für die Wahrung der Grundrechte ist ein unabhängiges Gericht also essenziell. Jetzt aber dürfen die höchsten Richter im Land Gesetze nicht mehr auf ihre «Angemessenheit» hin überprüfen. Ihr wichtigstes Kontrollinstrument ist futsch.

Hunderttausende demonstrieren auf den Strassen Israels gegen die Justizreform der Regierung.
Foto: IMAGO/ZUMA Wire
1/10

Diverse Ideen von der kompletten Annexion des palästinensischen Westjordanlandes über Sonderrechte für die Ultraorthodoxen sind bereits in der Pipeline. «Nicht mit uns», sagt sich da eine Mehrheit der liberalen Israelis. Laut einer aktuellen Umfrage haben mehr als zwei Drittel aller Start-up-Unternehmen – ein wichtiger Wirtschaftszweig in Israel – bereits konkrete Schritte eingeleitet, um ins Ausland zu ziehen. Und laut einer Erhebung des Senders Channel 13 überlegt sich fast jeder dritte israelische Bürger ernsthaft, das Land zu verlassen. Das wären immerhin gut zweieinhalb Millionen Menschen, die sich 75 Jahre nach der Gründung des Judenstaates erneut auf die mühselige Suche nach einer Heimat machen müssten.

Nun hat jeder Staat das Recht, sich selbst zu demontieren. In den Augen des Nahost-Experten Daniel Gerlach, Gründer der Fachzeitschrift «Zenith», sind die jüngsten Entwicklungen in Israel auch gar nicht erstaunlich, sondern lediglich Ausdruck einer «Akklimatisierung» Israels an seine Lage auf unserem Planeten. Das Land nähere sich langsam, aber sicher den politischen Verhältnissen im Nahen Osten an, schreibt Gerlach.

Wie lange zahlen die USA noch jedes Jahr vier Milliarden Dollar?

Ein destabilisiertes Israel hätte weitreichende Konsequenzen über die umstrittenen Grenzen des Neun-Millionen-Landes und über die immer schon impulsive Weltgegend am östlichen Mittelmeerrand hinaus.

Nehmen wir das Kriegsrisiko. Herzi Halewi (55), Chef der israelischen Streitkräfte, hat ernsthafte Besorgnis über die Tausenden Soldaten und Kampfjetpiloten geäussert, die aus Protest gegen die Reform ihren Dienst verweigern. So könne er Israels Sicherheit nicht mehr garantieren. Das freut die rachsüchtigen Schergen von Organisationen wie der libanesischen Hisbollah, die mit dem Segen und dem Geld des Irans seit langem versucht, die ungebetenen jüdischen Nachbarn wieder loszuwerden. Mal wieder ein Krieg im Nahen Osten? Eine neue Flüchtlingswelle wäre das Letzte, was Europa derzeit braucht.

Äusserst ungelegen kommt Netanyahus politisches Buebetrickli, mit dem er wohl primär seine eigene Haut vor den laufenden Verfahren wegen Korruption und Bestechung retten will, auch für die mächtigen Freunde Israels auf der anderen Seite des Atlantiks. Amerika sponsert Israel mit jährlich fast vier Milliarden Dollar Militärhilfe. Erste Zahlungen an Institutionen in den völkerrechtlich illegalen israelischen Siedlungen im palästinensischen Westjordanland hat Joe Bidens (80) Regierung bereits eingestellt.

Über weitere Schritte wird in den Vereinigten Staaten von Amerika mindestens bereits laut nachgedacht. Die «New York Times» etwa wagt zu fragen, ob man Israel wirklich weiterhin bedingungslos die jährliche Monstersumme überweisen soll. Die Idee, den Batzen an den «befreundeten Staat» von bestimmten Bedingungen (etwa dem Umgang Israels mit seinen palästinensischen Nachbarn) abhängig zu machen, gibt es auf Seite der US-Demokraten schon lange.

Netanyahus provokative Sommerlektüre

Klar ist: Die USA würden sich aussenpolitisch gerne auf China fokussieren, das sich zur ernsten wirtschaftlichen und militärischen Bedrohung für die Vereinigten Staaten gemausert hat. Stattdessen mussten die Amerikaner den wenig schlagkräftigen Europäern bei der (mindestens vorübergehenden) Rettung der Ukraine vor den russischen Tyrannenklauen zu Hilfe eilen. Weitere Ablenkung von ihrem geopolitischen Hauptziel in Form eines neuen Brandherds im Nahen Osten kommt grad eher ungelegen.

Netanyahu, einer der schlausten Politfüchse im derzeitigen Weltenbau, weiss natürlich um das amerikanische Dilemma. Zwei Tage, nachdem seine Verbündeten im Parlament die Justizreform durchgewinkt hatten, postete der israelische Premier ein Foto auf der Kurznachrichtenplattform X. Es zeigt ihn gemeinsam mit dem chinesischen Botschafter in Jerusalem, in der Hand eine Kopie von Xi Jinpings gesammelten Reden über die Führung Chinas, handsigniert vom chinesischen Präsidenten höchstpersönlich.

Die Botschaft könnte nicht klarer sein. Wenn die eine Weltmacht Israels neuen Kurs nicht mitgehen will: kein Problem. Dann zählt man auf die andere Weltmacht. An deren Führungsstil hat man sich bequemerweise ja schon einmal angepasst.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?