«Wenn ich zuhause bin, nehme ich als erstes ein Bad»
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Natallia Hersche ist zurück:«Wenn ich zuhause bin, nehme ich als erstes ein Bad»

Natallia Hersche erlebte Druck, Isolation, Radio-Folter
Die Standhafte

Nach der brutalen Haft in Belarus ist die schweizerisch-belarussische Doppelbürgerin Natallia Hersche vor allem eins: fest entschlossen. Jetzt muss sie ihr Leben neu sortieren.
Publiziert: 20.02.2022 um 01:10 Uhr
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Aktualisiert: 20.02.2022 um 06:22 Uhr
Fabienne Kinzelmann

Natallia Hersche (52) hätte in den vergangenen anderthalb Jahren ein bequemes Leben in der Schweiz führen können: Frühstücken mit Tochter Violetta (23) und ihrem Partner, dem Tübacher IT-Unternehmer Robert Stäheli, ein geregelter Arbeitsalltag in der Qualitätskontrolle eines Schweizer Unternehmens, ein heisses Bad, wann immer sie will.

Stattdessen sass sie im Gefängnis in Belarus. Die Haftanstalten von Machthaber Alexander Lukaschenko (67) sind brutal. Körperliche und psychische Folter gehören dazu.

«Sie haben zum Beispiel das Radio den ganzen Tag dröhnend laut gestellt. Bis 22 Uhr liefen ganz laut durchgehend Nachrichten, Musik, Lukaschenko-Reden», erzählt sie SonntagsBlick, nachdem sie am Freitag überraschend freikam. Pakete und Briefe wurden ihr teilweise vorenthalten. In raren Pausen musste sie sich zwischen Essen und Waschen entscheiden, berichtete sie ihrem Bruder Gennady Kasjan einmal in einem Brief. Mindestens viermal wurde sie in den 17 Monaten verlegt, musste in der Gefängnisnäherei arbeiten und WCs putzen. Erledigte sie das nicht schnell genug, drohte etwa Isolationshaft.

«Ich bereue nichts»: Natallia Hersche am Freitagabend nach ihrer Landung in der Schweiz mit Claude Altermatt (l.), ehemaliger Schweizer Botschafter in der Ukraine, Nationalrätin Barbara Gysi und EDA-Vertreter Johannes Matyassy.
Foto: keystone-sda.ch
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«Ich bereue nichts»

Das Regime bot Hersche an, ein Gnadengesuch zu stellen. Dafür hätte sie sich schuldig bekennen müssen. «Das hätte ich nie machen können», sagt die gebürtige Belarussin, die sichtlich schmaler als bei ihrer Verhaftung ist. Sie habe sich darauf eingestellt, die zweieinhalb Jahre abzusitzen, zu denen man sie nach einer Demo in Minsk verurteilt hatte. Ein Polizist behauptete, sie habe ihm die Sturmhaube heruntergerissen (was Hersche zugibt) und ihn dabei verletzt (was Hersche verneint). «Ich habe nichts Falsches gemacht. Ich bereue nichts.»

Hersche, die seit 2009 in der Schweiz lebt, war von der Demokratiebewegung ihrer Heimat elektrisiert. Wie ein «siegestrunkener Fan, dessen Mannschaft nach Jahrzehnten im Final steht», beschrieb Robert Stäheli die Stimmung seiner Partnerin später.

Frauen tricksten Lukaschenko aus

Wie auffällig viele Frauen wurde auch Hersche zum Symbol für den Protest gegen Lukaschenkos Unrechtsregime. Sie hatte der Diktator unterschätzt – das wurde ihm bei der Präsidentschaftswahl 2020 zum Verhängnis. Nachdem Lukaschenko männliche Konkurrenten von der Wahl ausgeschlossen oder eingesperrt hatte, begehrten deren Ehefrauen und Unterstützerinnen auf. Die Hausfrau Swetlana Tichanowskaja (39) trat für ihren inhaftierten Mann an und gewann.

Als Lukaschenko sich selbst zum Sieger erklärte und Proteste niederknüppeln liess, zogen die Belarussinnen mit rot-weisser Kleidung, Flaggen und Schirmen durch die Städte und verteilten demonstrativ Blumen an Sicherheitskräfte. Oft bezahlten sie ihren Mut wie Hersche mit Gefängnis.

«Es gab keinen direkten Kontakt mit Lukaschenko»
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Hersche wird mit Wilhelm Tell verglichen

Schon in Haft wurde Hersche zum Vorbild für andere Belarussinnen. Sie verweigerte Zwangsarbeit, trat in Hungerstreiks. Eine prominente Mitinsassin, die belarussische Basketballspielerin Alena Leutschanka (38), erzählte bewundernd, wie Hersche die mit Schlagknüppeln ausgestatteten Wärter auf das miese Gefängnisessen angesprochen habe.

Ob sie sich das ohne Schweizer Pass getraut hätte? Das habe sie sich auch schon gefragt, sagt Hersche. Die Schweiz habe sie auf jeden Fall gelehrt, friedlich für Freiheit und Demokratie einzutreten.

Als «weiblicher Wilhelm Tell» wurde Hersche schon beschrieben. Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja nannte sie nach ihrer Freilassung «eine echte Heldin» und «ein Symbol für Mut, das so viele Belarussen inspiriert».

Der Job ist noch da, doch sonst ist vieles offen

«Gott hat mir die Kraft zum Durchhalten gegeben», sagt Hersche. Kompromisse musste sie für ihre Freilassung offenbar nicht machen. Auch das Aussendepartment stellt klar, dass es keinen «Deal» mit Lukaschenko gab.

Hersche will nun ein schönes Bad nehmen («Das ist mein Traum!») und dann überlegen, wie es weitergeht. Ihr Chef hat ihre Stelle laut einem SRF-Bericht die ganze Zeit frei gehalten – doch sonst ist vieles unklar. Auch, ob ihre Beziehung überlebt hat.

Hersche reiste als normale Bürgerin nach Minsk, zurück kommt sie als Aktivistin. Sie will sich für eine demokratische Zukunft in ihrer Heimat einsetzen. Sie weiss: Sie ist nur ein Mensch, der freigekommen ist. Rund 1100 politische Gefangene sitzen nach aktuellen Schätzungen noch fest.

Der Fall Hersche

Die schweizerisch-belarussische Doppelbürgerin Natallia Hersche (52) wurde am 19. September 2020 in Minsk bei einem «Frauenmarsch» gegen das Regime von Alexander Lukaschenko (67) verhaftet.

Ein Polizist beschuldigte Hersche, ihm die Sturmhaube runtergerissen und ihn dabei verletzt zu haben. Den Schaden bezifferte er auf 1000 Rubel (rund 358 Franken). Im Dezember 2020 wurde Hersche zu zwei Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Nach dem drakonischen Urteil forderten 83 Schweizer Parlamentarierinnen und Parlamentarier in einem offenen Brief die Freilassung Hersches und weiterer politischer Gefangener in Belarus.

Hersche wurde mehrfach verlegt, trat in den Hungerstreik und verweigerte Zwangsarbeit. Vertreter der Schweizer Botschaft in Minsk besuchten sie insgesamt 14 Mal. Ein Gnadengesuch lehnte Hersche stets ab.

Die schweizerisch-belarussische Doppelbürgerin Natallia Hersche (52) wurde am 19. September 2020 in Minsk bei einem «Frauenmarsch» gegen das Regime von Alexander Lukaschenko (67) verhaftet.

Ein Polizist beschuldigte Hersche, ihm die Sturmhaube runtergerissen und ihn dabei verletzt zu haben. Den Schaden bezifferte er auf 1000 Rubel (rund 358 Franken). Im Dezember 2020 wurde Hersche zu zwei Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Nach dem drakonischen Urteil forderten 83 Schweizer Parlamentarierinnen und Parlamentarier in einem offenen Brief die Freilassung Hersches und weiterer politischer Gefangener in Belarus.

Hersche wurde mehrfach verlegt, trat in den Hungerstreik und verweigerte Zwangsarbeit. Vertreter der Schweizer Botschaft in Minsk besuchten sie insgesamt 14 Mal. Ein Gnadengesuch lehnte Hersche stets ab.

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