Multimedia-Reportage aus dem Samentresor auf Spitzbergen
In diesem Bunker lagert die Welt

Die Welt lagert die Samen ihrer Nahrungspflanzen im Permafrost auf Spitzbergen ein: in einem einzigartigen Saatgut-Tresor. Dieser wurde nun erstmals geöffnet: Wegen des Syrienkriegs. Klicken Sie auf die Bilder für 360°-Panoramas des Tresors.
Publiziert: 08.11.2015 um 09:56 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2018 um 23:20 Uhr
Von Adrian Meyer (Text) und Philippe Rossier (Fotos)

Wie wundervoll sie einen frösteln lässt, diese Trostlosigkeit. Urplötzlich wird man von Euphorie erfüllt, hier oben auf dem Hügel oberhalb der Siedlung Longyearbyen. Ein Blick ins Leere, aufs kaltblaue Polarmeer, auf die Insel Spitzbergen, in die Arktis. Wir stehen in der Wegmitte von Norwegen zum Nordpol, 78° 11′ Nord, 16° 34′ Ost. Zwischen den Hosenbeinen stiebt der Schnee, aufgepeitscht vom Wind. Der Himmel schwimmt in Grau, die schneebedeckten Berge verschwinden hinter Nebelschwaden. Es riecht nach Eis und Meer. Ein befreiendes Gefühl, einsam am Rand der Welt zu stehen.

Und dort ragt dieser nackte Betonkeil aus dem Boden, wie die Spitze eines Eisbergs, der im Berg begraben liegt. Mystisch, fast ausserirdisch wirkt er mit seinen grün-blauen Lichtern. Wie aus einem «Bond»-Film. Es ist der Eingang zum «Svalbard Global Seed Vault», dem Saatgut-Tresor unserer Welt. Er liegt mitten in der eisigen Flanke des Plataberget, 130 Meter über dem arktischen Ozean. Der Flughafens von Longyearbyen liegt in Sichtweite.

Der Saatgut-Tresor – das Backup der Welternährung

Erst seit 2008 gibt es diesen Tresor, doch er ist bereits ein Mythos. «Arche Noah der Kulturpflanzen» nennt man ihn. Oder «Doomsday Vault» – Weltuntergangs-Tresor. Millionen Samen von Nahrungspflanzen lagern darin, im Permafrost des Berges – für Jahrhunderte. Er ist das Backup des weltweiten Saatguts, ein sicherer Hort, falls es in Ländern zu katastrophalen Überschwemmungen, Dürren, Erdbeben kommt.

Jahrelang nahm der «Svalbard Global Seed Vault» neue Samen auf. Noch nie musste er geöffnet werden, um Saatgut hervorzuholen. Bis zu diesem Oktober.

Mit einem Ruck öffnet der norwegische Biologe Asmund Asdal (58) die stählerne Eingangstür und tritt ins Innere. «Jetzt sind wir in einem der sichersten Orte der Welt», sagt er. Asdal ist ein gemütlicher Mann in schwerer Winterbekleidung. Er managt den Saatgut-Tresor für Nordgen, das Zentrum für genetische Ressourcen. «Das ist Norwegens Geschenk an die Welt», sagt Asdal. «Wir wollen, dass alle Länder ihr Saatgut hier hinterlegen.» Samen einzulagern, ist kostenlos. Der norwegische Staat gewährleistet den Betrieb. Norwegen geniesst als neutrales und sicheres Land viel Vertrauen. Und Vertrauen ist zwingend für ein solches Projekt.

Hinter der Eingangstür führt ein schummriger Tunnel hinab zu einem zweiten Tor, es ist mit einem Geheimcode gesichert. Dahinter, 120 Meter tief im Fels, liegt eine Halle mit drei weiteren Stahltüren. Die mittlere ist mit Eiskristallen überzogen: Es ist die Luftschleuse zum Tresorraum.

Tiefgefroren lagern dort Samen aus allen Kontinenten. Mehr als 5100 Arten listet die Datenbank derzeit auf. Luftdicht verpackt in rund 881 000 Proben. Noch ist der Tresor nicht voll, es hat Platz für 4,5 Millionen Proben. Die Saatgut-Sammlung wird über Jahrzehnte von Stahl und Beton geschützt – wie ein heiliger Gral. Der Tresor soll die Artenvielfalt von Nutzpflanzen und die weltweite Nahrungsversorgung sichern. Verliert eine Nation ihre Saatgut-Sammlung, kann sie auf die Reserve im Tresor auf Spitzbergen zurückgreifen. Das ist die Grundidee.

Erstmals in Anspruch nahm diese Versicherung das Internationale Zentrum für Agrarforschung in Trockengebieten (ICARDA) mit Sitz im syrischen Aleppo. Es holte im Oktober einen Teil seines eingelagerten Saatguts zurück, 128 Kisten. Wegen des Krieges in Syrien.

Zwar überstand das ICARDA-Institut diesen Krieg bisher beinahe unbeschadet. Doch wegen der andauernden Kämpfe können die Wissenschaftler ihre Arbeit nicht mehr fortführen: Bereits zu Beginn des Krieges flohen die Forscher nach Beirut im Libanon. Dort und in anderen Nachbarländern wollen sie mit den Samenkopien aus dem Tresor neues Saatgut kultivieren. Fernab vom Krieg sollen neue Sammlungen entstehen für die Züchter und Forscher der krisengebeutelten Region. Das Institut besitzt eine der wichtigsten Sammlungen der Welt: Es verwahrt die hitzeresistenten Getreidesorten des Nahen Ostens, die wegen des Klimawandels künftig wichtiger werden. «Es ist tragisch, was in Syrien passiert», sagt Biologe Asdal. «Für uns aber beweist der Rückruf, das dass System des Seed Vaults funktioniert.»

Ein gewöhnlicher Hausschlüssel öffnet die Tresortür

Asdal kramt in seiner Jackentasche. «Wo habe ich bloss den Schlüssel hingetan?», murmelt er. Dann zieht er einen gewöhnlichen Hausschlüssel hervor. Er befreit das Schloss der Tresortüre von den Eiskristallen, dreht den Schlüssel und tritt ein. «Willkommen im bedeutendsten Raum der Welt», sagt er und breitet seine Arme aus.

Der Anblick ist: entzaubernd. Ein nüchterner Lagerraum. Fünf Regalreihen mit Kisten. Kartonkisten aus Kenia, Plastikkisten aus den Niederlanden, Deutschland, den USA. Holzkisten aus Nordkorea. Und: graue Rahmenkonstruktions-Boxen (Rako-Boxen) aus der Schweiz. Dort, wo die Kisten aus Syrien liegen sollten, klafft eine Lücke.

Ziemlich banal erscheint der Ort mit seinen Wänden aus Spritzbeton, den Kühlungsrohren an den Decken, den Neonröhren. Bis Asdal daran erinnert, was in den Kisten ruht: «Im Schnitt isst ein Mensch bloss 20 Pflanzenarten. Hier aber lagern die Samen von mehr als 5000 essbaren Pflanzen. Ich bin jedes Mal überwältigt, wenn ich an den Kisten vorbei­gehe.»

Permafrost schützt die Samen, falls die Kühlung ausfällt

Ungewöhnlich ist die Kälte: minus 18 Grad. Nach wenigen Minuten gefrieren die Nasenschleimhäute. Der natürliche Permafrost kühlt auf minus acht Grad, den Rest übernimmt eine Kühlanlage. Sollte diese sowie die Notkühlung ausfallen, lagern die Samen dank des Permafrosts dennoch bei Minustemperaturen.

Minus 18 Grad ist die ideale Lagertemperatur für Saatgut. Die Samen bleiben so über Jahrzehnte, einige Sorten sogar Hunderte von Jahren keimfähig. «Gerstensamen soll Jahrhunderte überdauern», sagt Asdal. «Aber genau wissen wir das nicht.» Ob die Samen noch in Pflanzen aufgehen, testen die einlagernden Institute regelmässig in ihren eigenen, lokalen Genbanken. Schwindet die Keimfähigkeit, werden die Samen ausgesät und danach das frisch geerntete Saatgut im «Svalbard Global Seed Vault» eingelagert.

Man muss sich die lokalen Genbanken der Länder als weltweit ­vernetzte Datenbanken vorstellen. Ihre Bestände aktualisieren sie regelmässig, ihre Samen verteilen sie kostenlos an die Züchter und Forscher. Befällt nun eine Krankheit eine Getreidesorte und bedroht ganze Ernten, können die Forscher in den Hunderten Genbanken weltweit nach Resistenzen suchen und diese Eigenschaften durch Kreuzen in Pflanzen einbringen. Jede Genbank hortet zudem eine Kopie ihres Bestandes in einer Partnergenbank eines anderen Landes.

Der Tresor auf Spitzbergen aber ist wie eine Festplatte, die man an einem abgeschotteten Ort über Jahre sicher lagert – und nicht anrührt. Wie wichtig dieser eisige Lagerraum für die Menschheit ist, erzählt Biologe Asdal zwischen den Regalen mit einer Anekdote. Diesen Sommer deponierten Vertreter der peruanischen NGO «Parque de la Papa» Kartoffelsamen aus den Anden auf Spitzbergen. Sie wollten die Kisten mit den Samen unbedingt selber tragen. In traditionellen Ponchos gekleidet, legten sie das Saatgut sanft ins Regal. Und hielten in der Eiseskälte eine bewegende Zeremonie. «Wer dabei war, weinte», sagt Asdal. Die Dankbarkeit der Peruaner und ihre tiefe Verbindung zur Natur habe ihn stark berührt.

Tatsächlich bewahrt der Tresor das Erbe einer über 12 000 Jahre ­alten Kulturtechnik: Ackerbau betrieben die Menschen erstmals um etwa 11 000 vor Christus in Mesopotamien – ausgerechnet auf dem Gebiet des heutigen Syrien.

Saatgut war seit jeher der überlebenswichtige Schatz einer Gemeinschaft: Wer von der letztjährigen Ernte die gesündesten und ertragreichsten Samen aufbewahrte, sicherte sich reiche Ernten und eine bessere Zukunft. Die jahrtausendealte Kulturtechnik brachte eine unglaubliche Artenvielfalt hervor. Die Nahrungspflanzen waren zwar perfekt an lokale Verhältnisse angepasst. Aber sie schützten nicht gegen des Menschen älteste Plage: den Hunger.

90 Prozent der Nutzpflanzen verschwanden von den Feldern

Um die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung zu sichern, experimentierten Pflanzenzüchter Anfang des 20. Jahrhunderts mit Hybridsorten. Diese genetisch einheit­lichen Arten lieferten weit grössere Erträge. Bei Mais etwa verdoppelten sie sich. Ausgehend von den USA, vermarkteten Saatguthersteller die Supersamen um den Globus – und läuteten die grüne Revolution der 1960er ein. Mit einem Nachteil: Die Sortenvielfalt brach ein. Laut der Uno-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) verschwanden seit 1900 über 90 Prozent der Nutzpflanzensorten von den Feldern. Drei Viertel der genetischen Breite gingen verloren – zu Gunsten von einigen wenigen Hochertragssorten.

Das letzte Bollwerk gegen das Aussterben unzähliger Nutzpflanzen sind die Saatgutbanken mit ihren Sammlungen voller seltener Sorten. Bloss: Auch sie sind vielerorts in einem miserablen Zustand, vor allem in Entwicklungsländern.

Nicht wegen Naturkatastrophen gehen viele Sorten für immer verloren, sondern wegen der schlechten Lagerung, kaputten Kühlgeräten, zu wenig Personal und anderen Banalitäten. Sogar in der reichen Schweiz drohe der Sammlung am ehesten Gefahr durch «Budgetkürzungen und politischen Entscheiden, aber auch Reorganisationen und Personalstopps», sagt Beate Schierscher, Leiterin der Schweizerischen Genbank Changins in Nyon VD. Der Saatgut-Tresor auf Spitzbergen soll den Sortenschwund endgültig stoppen.

Nach zwei Stunden im Tresor ist die Tinte im Kugelschreiber eingefroren, die Finger sind klamm. Biologe Asdal zieht die Türe hinter sich zu und führt nach draussen, an die Polarluft. Der Wind pfeift noch immer eisig. Sonst herrscht Stille. Das Arche-Projekt, das wird einem in dieser Wildnis gewiss, ist so faszinierend wie paradox: Die Samen der Welternährung lagern auf einer Insel, auf der fast nichts gedeiht. Sie scheint weit ab von der Welt, ist aber mit dem Flugzeug in weniger als zwei Stunden vom Festland erreichbar. Ausgerechnet Stahl und Beton schützen die Vielfalt der Natur. Ein mythenumrankter Ort ist eigentlich ein Lagerraum. Und vor allem: Samen aus aller Welt, diese unglaubliche Vielfalt, wird in bloss einem Raum gebunkert.

Was, wenn dieser Raum zerstört würde? Verlöre die Menschheit all ihr Saatgut? Biologe Asdal winkt ab. Der Tresor sei bloss die aller­letzte Sicherungsstufe. «Damit das ganze Genbank-System kollabiert, müsste sehr, sehr viel schiefgehen.» Irgendwie beruhigend.

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