Micheline Calmy-Rey zur Flüchtlings-Krise
«Wer wegschaut, macht sich mitschuldig»

Die alt Bundesrätin kritisiert Berns Aussenpolitik: Wer beim Krieg in Syrien nur zuschaue, mache sich mitschuldig.
Publiziert: 06.09.2015 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 20:55 Uhr
Interview: Katia Murmann

SonntagsBlick: Das Bild des kleinen Aylan bewegt die ganze Welt. Was dachten Sie, als Sie es zum ersten Mal sahen?
Micheline Calmy-Rey
: Ich habe das Bild gerade vor mir. Es ist ein Desaster. Das Mittelmeer sollte etwas Schönes sein, ein Meer, das den afrikanischen Kontinent und Europa vereint. Statt dessen ist es ein Friedhof geworden. Kinder sterben, Aylan, aber nicht nur Aylan, Tausende von Menschen! Die Menschenrechte werden nicht mehr beachtet, die Flüchtlinge behandelt wie Vieh. Ich finde es unerträglich.

Es wurde viel debattiert: Ist es richtig, dass die Medien ein solches Bild zeigen?
Es ist furchtbar, aber wir müssen es zeigen. Das ist unsere Verantwortung. Das Bild des toten Jungen weckt Emotionen in jedem von uns. Das Kind, das da liegt, könnte unser Sohn, unser Enkel sein. Es ist so einfach, die Augen zu verschliessen. Aber wir dürfen nicht länger wegsehen. Es sind Menschen wie wir, die da leiden.

Was muss passieren?
Italien und Griechenland sind überfordert. Es braucht einen konkreten Verteilschlüssel für die Flüchtlinge, die Schweiz muss ihren Anteil leisten. Es geht um die Ehre Europas. Und es ist unsere humanitäre Tradition, dass wir Menschen in Not helfen. Besonders die Schweiz als Hort der Genfer Konventionen. Wir sind gut. Wir können das schaffen – ohne Angst haben zu müssen.

Alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey unterstützt die Aktion «Wir helfen» der BLICK-Gruppe.
Foto: Stefan Bohrer

Das sagt sich leicht. Aber viele haben Zweifel: Was tun mit all den Leuten, die da kommen?
Die Schweizerinnen und Schweizer können positiv eingestellt sein gegenüber den Flüchtlingen. Und sie können unterstützen, was die Regierung tut, und mehr von ihr verlangen. In Deutschland ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung dafür, dass man sich für die Flüchtlinge öffnet. Und Frau Merkel hat gesagt, die Syrer werden nicht mehr nach Italien oder Griechenland zurückgeschickt. Ausserdem müssen die Asylverfahren beschleunigt und die Flüchtlinge integriert werden. Doch das ist nicht alles.

Was braucht es noch?
Fragen Sie sich doch mal: Warum kommen all diese Menschen aus Syrien überhaupt zu uns?

Weil Krieg herrscht.
Genau! Da braucht es eine proaktive Aussenpolitik. Man darf den Krieg in Syrien nicht nur von weitem anschauen und all diese entsetzlichen Gräueltaten einfach hinnehmen. Wir sind zu passiv. Die EU-Aussenpolitik ist schwach in dieser Region, auch die Schweiz sollte aktiver werden.

Was muss die Schweiz tun?
Warum diskutiert man nicht intensiv mit anderen westlichen Ländern, die ebenfalls interessiert sind an einer friedlichen Lösung? Warum entwickeln wir nicht eine diplomatische Strategie? Wir können doch nicht einfach immer weiter zuschauen! Allein kann die Schweiz nicht viel tun, aber trotzdem, wir haben Einfluss und könnten mehr unternehmen, damit das Humanitäre Völkerrecht respektiert wird. Wir müssen darauf hinarbeiten, dass die Konfliktparteien die Menschenrechte achten. Wir müssen unseren Beitrag leisten, sonst machen wir uns mitschuldig an dem, was passiert.

Gibt es Hoffnung für Syrien?
Ich wünschte es. Aber es sind dort so viele geostrategische Interessen im Spiel. Ich glaube nicht, dass der Krieg schnell zu Ende geht. Die Flüchtlinge werden bei uns bleiben. Für einige Zeit.

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