Laptops, Smartphones, Programmieren
Rechner statt Reisfeld

In vielen ländlichen Regionen Vietnams ist die Armut gross. Um die Schere zwischen Stadt und Land zu verkleinern, bringt die Schweizer Stiftung Dariu den Kindern Programmieren bei.
Publiziert: 27.08.2022 um 14:03 Uhr
Lea Ernst

Unter Vi Thi Mai Hoas (12) nackten Füssen gackert es. Durch die Lücken zwischen den Bambuslatten sind ihre Hühner zu sehen, die den Lehmboden nach heruntergefallenen Reiskörnern abpicken. Irgendwo in der Nähe des traditionellen Stelzenhauses schnaubt ein Ochse, vor dem Fenster schwebt eine handgrosse Seidenspinne. In ihrem Netz schillern Tropfen, obwohl es aufgehört hat zu regnen.

Seit Vi This Mutter aus dem kleinen Dorf im Nordwesten Vietnams weggezogen ist und nicht mehr für sie sorgen konnte, wächst die Schülerin bei ihrer Grossmutter auf. Diese kommt gerade von der Arbeit zurück – eine kleine Frau mit grosser Reissichel. Sie kraxelt die Holzleiter hinauf in ihr Zuhause: zwanzig Quadratmeter auf Stelzen. Küche, Wohn-, Schlaf- und Esszimmer zugleich. An der Wand hängen Reishüte und Kochlöffel.

Die Grossmutter zeigt ihr schwarzes Lächeln. Der Kautabak aus Betelnüssen hat ihre Zähne verfärbt. Über dem Feuer kocht sie Teewasser, Strom oder elektronische Geräte gibt es in dem Haushalt nicht, und setzt sich auf den Bambusboden. Eine hagere Gestalt, der Rücken gekrümmt von einem Leben auf dem Reisfeld. Schon ihre Eltern waren Reisbauern, ebenso wie deren Eltern. Doch die Enkelin Vi Thi hat einen anderen Traum: Sie will IT-Lehrerin werden.

In Vietnam wie hier in der Hauptstadt Hanoi hängen die Fahnen der Kommunistischen Partei.
Foto: Alberto Venzago

Grüne Berge und Gesundheitsroboter

Etwa hundert Meter vom Stelzenhaus entfernt füllt sich der Pausenhof mit bunten Kreisen. Hier geht Vi Thi zur Schule. Die Kinder der Sekundarschule Mai Hich halten sich in kleinen Grüppchen an den Händen, tanzen oder hüpfen über lange Bambusstäbe. Die vietnamesischen Volkslieder hallen durch die Gassen. In Zeitlupe kriechen Nebelschwaden über die smaragdgrünen Berge. Vor hundert Jahren ist hier die Zeit stehen geblieben, könnte man meinen.

Spiel und Spass auf dem Pausenhof der Sekundarschule Mai Hich.
Foto: Alberto Venzago

Doch oben im ersten Stock des Schulhauses winkt der 15-jährige Hien Dinh in eine Kamera. Bunte Blasen ploppen im Laptop-Screen auf. Automatisch wird seine Zeichensprache in Text übersetzt. Der Schüler hat ein Chatsystem für Taubstumme entwickelt und unterhält sich damit gerade mit seinen Freunden.

Sieben Millionen Kinder bis 2027

Seit 2002 unterstützt der Ringier-Verlag, der auch das SonntagsBlick Magazin herausgibt, die Stiftung Dariu, die Kinder aus benachteiligten Verhältnissen in Entwicklungsländern hilft. Die ersten Kurse werden ab dem Kindergarten angeboten, doch die Mehrheit der geförderten Kinder ist 9 bis 15 Jahre alt. 50 Prozent der geförderten Kinder sind Mädchen.

Seit zwanzig Jahren ist die Stiftung in Südvietnam und Myanmar tätig, seit zwei Jahren unterstützt sie auch die Schulen und Kinder im Norden. Eine Million Kinder hat sie bis 2021 unterrichtet. Das neue Ziel von Dariu: ihre Idee unter anderem auf die Länder Bhutan, Malaysia, Laos, Kambodscha und die Philippinen auszuweiten. In Bhutan und Malaysia finden ab diesem Jahr Pilotprojekte statt. Bis 2027 sollen es sieben Millionen Kinder in acht Ländern sein, die durch die Stiftung IT-Grundkenntnisse erhalten.

Mit dem 2022 in Vietnam gestarteten Projekt «Impossible» will Dariu das Unmögliche möglich machen und die innovativsten Projekte der Kinder bis zur Unternehmensreife bringen. Dafür werden die Talente von 5000 Kindern in 250 Code Clubs gefördert. Von diesen Kindern werden 1000 Kurse unter anderem in Finanzwissen, AI und Kryptowährungen erhalten. Die 250 begabtesten Kinder können eine Ausbildung in der Unternehmensführung machen. Danach fördert die Stiftung Dariu die Umsetzung ihrer Ideen im Start-up-Programm, wo es einen Wettbewerb der besten Projekte gibt.

Seit 2002 unterstützt der Ringier-Verlag, der auch das SonntagsBlick Magazin herausgibt, die Stiftung Dariu, die Kinder aus benachteiligten Verhältnissen in Entwicklungsländern hilft. Die ersten Kurse werden ab dem Kindergarten angeboten, doch die Mehrheit der geförderten Kinder ist 9 bis 15 Jahre alt. 50 Prozent der geförderten Kinder sind Mädchen.

Seit zwanzig Jahren ist die Stiftung in Südvietnam und Myanmar tätig, seit zwei Jahren unterstützt sie auch die Schulen und Kinder im Norden. Eine Million Kinder hat sie bis 2021 unterrichtet. Das neue Ziel von Dariu: ihre Idee unter anderem auf die Länder Bhutan, Malaysia, Laos, Kambodscha und die Philippinen auszuweiten. In Bhutan und Malaysia finden ab diesem Jahr Pilotprojekte statt. Bis 2027 sollen es sieben Millionen Kinder in acht Ländern sein, die durch die Stiftung IT-Grundkenntnisse erhalten.

Mit dem 2022 in Vietnam gestarteten Projekt «Impossible» will Dariu das Unmögliche möglich machen und die innovativsten Projekte der Kinder bis zur Unternehmensreife bringen. Dafür werden die Talente von 5000 Kindern in 250 Code Clubs gefördert. Von diesen Kindern werden 1000 Kurse unter anderem in Finanzwissen, AI und Kryptowährungen erhalten. Die 250 begabtesten Kinder können eine Ausbildung in der Unternehmensführung machen. Danach fördert die Stiftung Dariu die Umsetzung ihrer Ideen im Start-up-Programm, wo es einen Wettbewerb der besten Projekte gibt.

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Einen Tisch weiter steht das Modell einer Schülerin, die ein automatisches Warnsystem für Erdrutsche entwickelt hat. In der Ecke drückt ein Grüppchen an einer Box herum: ein medizinischer Helfer für zu Hause. Legt man den Zeigefinger auf einen bestimmten Knopf des Geräts, misst es Körpertemperatur und Blutdruck. «Wir wollten etwas entwickeln, das die Pflege älterer Familienmitglieder vereinfacht», erklären die Mädchen.

Vor zwei Jahren hat in dem Dörfchen die Digitalisierung Einzug gehalten. Die Schweizer Stiftung Dariu hat Lehrerinnen und Lehrer im Programmieren ausgebildet, erstellt Lernprogramme und stattet die Schule mit Smartphones und Laptops aus.

Die ländlichen Regionen gehen leer aus

Thomas Trüb (70) steht im ersten Stock, gleich neben dem neuen IT-Zimmer, und blickt hinunter auf den Pausenhof. Es hat wieder angefangen zu regnen, dicke Tropfen prasseln auf das bunte Zirkusdach, das die Lehrerinnen und Lehrer in Windeseile aufgespannt haben. Der Gründer und Präsident der Stiftung Dariu sagt: «Hier in Vietnam wird das nationale Bildungsbudget hauptsächlich in den Städten eingesetzt.»

Stiftungsgründer Thomas Trüb zu Besuch in der Sekundarschule Kim Dong. Neben ihm sitzt Nguyen Van Hahn, Geschäftsführer der Stiftung Dariu.
Foto: Alberto Venzago

Wie hier in Mai Hich gehen die meisten ländlichen Gebiete des Landes oft leer aus. «Es trifft genau die Falschen», sagt Trüb. «Die Kinder, die bereits aus unterprivilegierten Verhältnissen stammen, erhalten keine Chance auf eine bessere Zukunft.» Auch die Schülerinnen und Schüler dieser Sekundarschule hatten bis vor zwei Jahren praktisch keinen Zugang zum Internet und somit auch nicht zu vielen Berufen der Zukunft. Und ohne digitale Kenntnisse ist die Zukunft schwierig in einem Land, dessen Städte davongaloppieren, während die Dörfer auf den Reisfeldern sitzen bleiben.

Die Programme sind unterdessen Teil des vietnamesischen Lehrplans

Hinter Nguyen Van Hahns (43) Kopf strahlen Hochhäuser durch die Nacht. Einer glitzernden Ameisenstrasse gleich fahren die Autos über die Brücke Long Bien. Hahn sitzt auf einer Dachterrasse mitten in Hanoi, etwa vier Autostunden vom Dorf Mai Hich entfernt, unter ihm das Wimmeln der Hauptstadt. Er ist Geschäftsführer der Stiftung Dariu.

«Unser Ziel ist es, die Schere zwischen Stadt und Land zu verkleinern», sagt er. Und zwar folgendermassen: Die Stiftung bildet lokale Lehrerinnen und Lehrer mit einem Grundkurs im Programmieren aus, damit sie es unterrichten können. Über 11’000 Lehrkräfte hat Dariu bereits weitergebildet. Die Kindergärten erhalten Smartphones, die Schulen Laptops als Leihgabe. Die von der Stiftung entwickelten Lernprogramme sind Open Source, können also ohne Lizenzen von jeder und jedem verwendet werden. Unterdessen sind die Dariu-Programme Teil des offiziellen Lehrplans in Vietnam geworden.

In vielen ländlichen Gebieten Vietnams ist die Armut gross. Deshalb bildet die Schweizer Stiftung Dariu das lokale Lehrpersonal aus, um Programmieren unterrichten zu können. Die Stiftung stellt Programme, Smartphones und Laptops zur Verfügung.
Foto: Alberto Venzago

«Im Kindergarten beginnt das Programmieren komplett spielerisch», sagt Hahn. Erst in den Code Clubs werden die talentiertesten Schülerinnen und Schüler speziell gefördert. Dorthin kommen diejenigen Kinder, die am meisten Freude und Begeisterung zeigen. In den unterdessen 158 Code Clubs in Vietnam werden sie zum Beispiel in der Programmiersprache Python, in künstlicher Intelligenz, Blockchain oder E-Commerce gefördert.

In kleinen Gruppen entwickeln die Kinder der Code Clubs ein eigenes Projekt. Zum Beispiel das Übersetzungstool für Taubstumme oder das Alarmsystem für Erdrutsche. «Damit erhalten sie eine angemessene Grundlage für ein Stipendium für ein weiterführendes Studium», so Hahn.

Denn das kommunistische Vietnam verwandelt sich derzeit radikal: Bis 2025 könnte die digitale Wirtschaft einen Umsatz von umgerechnet rund 50 Milliarden Franken erreichen, schätzen die Behörden. Die Anzahl Unternehmen und Verbraucher, die sich für digitale Produkte und Dienstleistungen entscheiden, schnellt nach oben: Teilsektoren der digitalen Wirtschaft wie E-Commerce oder digitale Finanzdienstleistungen boomen. Studien schätzen, dass nur schon der E-Commerce-Markt bis 2025 umgerechnet fast 15 Milliarden Franken Umsatz erreichen wird – gegenüber 2,7 Milliarden Franken im Jahr 2018.

Das kommunistische Vietnam befindet sich gerade mitten im digitalen Wandel.
Foto: Alberto Venzago
In den Strassen der Hauptstadt Hanoi wimmelt es nur so von geschätzten 5,7 Millionen Motorrädern.
Foto: Alberto Venzago

Aussichten, die den heutigen Schülerinnen und Schülern eine digitale Zukunft bieten. Doch auch nach der Schule ist die Unterstützung durch die Stiftung Dariu nicht zu Ende. Hahn sagt: «Die Tüchtigsten erhalten ein vertieftes Training und Coaching, um ihre Projekte bis zum Start-up zu bringen. Wir wollen sie ermutigen, ihre Ideen tatsächlich umzusetzen, und sie weiterhin technisch unterstützen.»

Kreatives Denken statt Auswendiglernen

In der Sekundarschule Mai Hich haben sich unterdessen alle Kinder und Lehrerinnen auf dem Pausenhof versammelt. Sie drängen sich um die Tische voll frischem Gemüse und Früchten. Zeit fürs Mittagessen.

In Vietnam orientiere sich das Schulsystem stark am Auswendiglernen und an Fleissarbeit, sagt Stiftungspräsident Trüb. «Uns geht es deshalb darum, die Kinder zu einem kritischen und kreativen Denken zu ermutigen.» Für die kommenden Generationen seien die Grundzüge des Programmierens ebenso wichtig wie Lesen, Schreiben und Rechnen. «Die digitale Revolution ist im Gange. Wir geben den Kindern Werkzeuge in die Hand, die sie für ihre Zukunft nutzen können – was auch immer ihr Lebensweg sein wird.»

Ihre Grossmutter ist Reisbäuerin, doch Vi Thi Mai Hoa will IT-Lehrerin werden.
Foto: Alberto Venzago

Auch Vi Thi Mai Hoa holt sich ihr Mittagessen, bevor sie ihrer Grossmutter auf dem Reisfeld helfen geht. Sie möchte es in den Code Club schaffen, und dann nichts wie weg von hier. Studieren. Am liebsten im Ausland. Aber nicht für immer: «Wenn ich erwachsen bin, werde ich in mein Dorf zurückkehren», sagt sie. Um den Kindern von morgen das beizubringen, was sie heute lernt.

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