Krieg in Europa
Putin geht aufs Ganze

Mit seiner Invasion der Ukraine hat der russische Präsident maximal eskaliert. Das wird Europa verändern.
Publiziert: 24.02.2022 um 20:55 Uhr
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Aktualisiert: 24.02.2022 um 21:20 Uhr
Fabienne Kinzelmann, Celina Euchner, Chiara Schlenz und Sven Ziegler

Als Europa noch schlief, schlug Putin (69) zu. Am Donnerstagmorgen begann der russische Präsident einen koordinierten Angriff auf ukrainische Militäranlagen und Flugplätze mit Marschflugkörpern und ballistischen Raketen. Die Attacke sollte die Luftverteidigung der Ukraine ausschalten. Zuvor hatte er in einer Fernsehansprache eine «Sondermilitäroperation» angekündigt.

Innerhalb weniger Minuten – gegen 5 Uhr morgens Ortszeit in der Ukraine – waren in der Hauptstadt Kiew mehrere Explosionen zu hören. Aus anderen Grossstädten gab es ähnliche Berichte. Vom Osten, von der Krim und vom Norden über Belarus rückten Putins Truppen in die Ukraine und Richtung Hauptstadt vor. Im Laufe des Tages gibt es Dutzende Tote und Verletzte. Die Angriffe sind grossflächig – und zwingen Menschen zur Flucht.

«Wir haben unsere Sachen gepackt und gehen zu meinen Eltern, 50 Kilometer ausserhalb der Stadt», sagt Elena Sabada aus Kiew zu Blick. Gepackt habe sie für zwei bis drei Wochen. Wie lange sie am Ende bleiben wird, weiss sie nicht.

Wladimir Putin hat der Ukraine de facto den Krieg erklärt – sein genaues Ziel ist unklar.
Foto: Sergei Guneyev/POOL/TASS
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Selenski weiss nicht, wie lange er noch lebt

In der Ostukraine herrscht bereits seit acht Jahren Krieg. Seit Monaten zieht Putin seine Truppen an der Grenze zusammen. Seit November bestand die glaubhafte Möglichkeit, dass der russische Präsident in die Ukraine einmarschiert. US-Präsident Joe Biden (79) warnte davor. Doch dass es tatsächlich passiert – damit hat am Ende kaum jemand gerechnet.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (41) hat den Kriegszustand ausgerufen. Die diplomatischen Beziehungen zu Russland hat er abgebrochen. In Kiew heulen die Sirenen, die Metro-Stationen fungieren als Luftschutzbunker.

Die Ukrainer haben Angst. Österreichs Kanzler Karl Nehammer (49) erzählte während einer Parlamentsdebatte erschüttert von einem Telefonat, das er mit dem ukrainischen Präsidenten geführt habe: Selenski habe gesagt, dass er nicht wisse, wie lange es sein Land noch gebe und wie lange er noch leben werde.

Was ist Putins Ziel?

Putins genaues Ziel ist unklar. Die vergangenen zwei Wochen hat der russische Präsident genutzt, um den Grund für die Invasion zu konstruieren. Am Montag liess er eine Sitzung mit seinem Sicherheitsrat wie eine Show im TV übertragen. Darin sprach er der Ukraine das Existenzrecht ab.

In seiner Fernsehansprache vor den Attacken sprach Putin nun davon, die Ukraine «entnazifizieren» zu wollen. Die Legende von den «Nazis» und «radikalen Nationalisten», die in der Ukraine ungehindert wüteten, spielte auch bei der Annexion der Krim 2014, bei der Landnahme in der Ostukraine durch prorussische Separatisten sowie dem damals verdeckten Militäreinsatz eine Rolle.

Offiziell erhebt Putin nicht wie bei der Krim Anspruch auf ukrainische Gebiete. Sein Ziel könnte etwa eine Marionettenregierung in der Ukraine sein – was für die breite Bevölkerung weniger blutig vonstatten gehen dürfte. Auch Putin hätte wohl Mühe, zu Hause allzu viele Leichensäcke zu erklären.

Die internationalen Reaktionen sind so scharf wie hilflos. Die Nato hat ihre Verteidigungspläne für Osteuropa aktiviert, rechnet jedoch nicht mit einem Angriff auf einen Bündnisstaat. Nach der ersten Sanktionsrunde am Dienstag werden nun neue Strafen erwartet. Doch ob sie Moskau wirklich treffen, ist unklar. Russland hat sich mit Währungsreserven und Kryptowährung eingedeckt, um Wirtschaftssanktionen abzufedern.

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Angst vor Einsatz von Nuklearwaffen

Die Lage ist nicht nur für die Ukraine brenzlig. Die schwedische Friedensnobelpreisträgerin Beatrice Fihn (40), Direktorin der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen, warnt auch vor einer nuklearen Eskalation – absichtlich oder unabsichtlich: «Plötzlich entfaltet sich das ‹Undenkbare› vor unseren Augen. So wird aus einem regionalen Konflikt ein globaler Albtraum.»

Ein Szenario, das auch Benno Zogg vom Center for Security Studies an der ETH Sorge bereitet: «Allein schon, dass Nuklearangriffe nicht ins Spiel kommen, ist das Ziel.» Er befürwortet es, dass der Westen diplomatische Kanäle so weit wie möglich offen hält.

«Im Moment ist allerdings die Frage, ob noch irgendjemand Putins Ohr hat – ausser vielleicht absolute Hardliner vom Militär, welche die militärische Logik verfolgen. Von der politischen Logik hat sich Putin verabschiedet», so Zogg zu Blick.

Klar ist: Eine schnelle Lösung wird es nicht geben. «Spätestens seit heute leben wir in einem anderen Europa», sagt der Sicherheitsforscher Niklas Masuhr von der ETH Zürich. «Wie genau das aussehen wird, werden wir erst in Tagen, Wochen und Monaten wissen.» Oder gar Jahren.

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