Kohl-Kenner Heribert Prantl über den Kanzler aus der Provinz, der Weltpolitik machte
«Ohne Helmut Kohl gäbe es die EU nicht»

Gerade weil er aus der Provinz der Pfalz kam, hatte Helmut Kohl (†87) Erfolg, sagt der Politikchef der «Süddeutschen Zeitung», Heribert Prantl. Und wurde so von der verspotteten Birne zu einem Politiker der Weltgeschichte.
Publiziert: 16.06.2017 um 20:27 Uhr
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Aktualisiert: 08.10.2018 um 18:42 Uhr
Interview: Hannes Britschgi

BLICK: Heribert Prantl, Sie haben Helmut Kohl ein Leben lang als Politkommentator begleitet. Was war er für ein Mensch?
Heribert Prantl:
Er war ein Mensch aus der Provinz. Das Provinzielle war das Besondere seiner Art, Politik zu machen. Kirchturmpolitik wird oft negativ gebraucht. Doch Kirchturmpolitik ist eine Politik, die überschaut, was sie macht. Und er hat überschaut, was er machte. Und vor allem hat er überschaut, dass Europa gemacht werden muss. Im Unterschied zu heute, wo so viel Kritisches über Europa erzählt wird, konnte Helmut Kohl den Menschen klarmachen, warum dieses Europa so wichtig ist. Wenn Angela Merkel von Europa redet, hat man das Gefühl, sie beschreibe eine technische Versuchsanordnung. Oder ich sage es noch böser: Sie beschreibt eine Plastikflasche. Helmut Kohl aber konnte mit Wärme, mit Feuer von Europa reden.

Helmut Kohl steht vor einem vereinten Deutschland. Im Februar 1990 wurde er von einer jubelnden Menge begrüsst. Doch auch ein grosser Kanzler muss klein beginnen.
Foto: MICHAEL URBAN
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Wie wichtig war Helmut Kohl für die Europäische Union?
Wenn Helmut Kohl nicht gewesen wäre, gäbe es die Europäische Union nicht. Das ist sein welthistorisches Verdienst. Viele sagen, jemand anderer hätte die deutsche Einheit auch hingekriegt. Das Fenster war halt offen. Durch dieses Fenster, durch diese Tür, musste man steigen. Er hats gut gemacht. Aber das ganz grosse Verdienst war dieses Europa.

Konnte er den Menschen Europa besser erklären?
Er suchte mit seiner eben auch provinziellen Art Anknüpfungspunkte. Er redete mit Journalisten wie mit Staatsmännern: Er fragte: «Wo kommen Sie eigentlich her, Herr Prantl?» Dabei wusste er ganz genau, der Prantl kommt aus der Oberpfalz. Aber er wollte ein Gespräch finden. «Sie kommen von der Oberpfalz. Ich komme aus der Pfalz. Wissen Sie eigentlich, warum die Oberpfalz Oberpfalz heisst?» Da war man mitten im Gespräch.

Und mit Staatsmännern sprach er genauso?
Wenn man die Memoiren von Staatsmännern liest – ob Gorbatschow, ob Bush: Kohl hat mit ihnen ähnlich geredet. Er hat gefragt, wo sie im Zweiten Weltkrieg waren. Was ihr Vater gemacht hat. Er hat das Persönliche, wenn Sie so wollen, das Provinzielle im Menschen gesucht. Es gibt den schönen Satz von einem meiner Lieblingsschriftsteller, Oskar Maria Graf: «Provinziell muss die Welt werden, dann wird sie menschlich.» Das konnte Helmut Kohl. Er hat das Provinzielle in der Welt und im Menschen auf eine ganz positive Weise entdeckt.

Helmut Kohl hat Wahl um Wahl gewonnen, aber in der öffentlichen Meinung kam er immer sehr schlecht weg. Weshalb diese Diskrepanz?
Das intellektuelle Deutschland – dazu zähle ich auch die Journalisten – hat immer gesagt: Ach Gott, was ist das für ein platter Denker, ein schlechter Redner. Man hat Bundespräsident Richard von Weizsäcker neben ihn gestellt und gesagt: Ein Mensch mit Grandezza. Und Kohl war derjenige, der als Birne verspottet wurde. In den Tagen der deutschen Einheit hat sich das gewandelt. Es zeigte sich, das der, den man verspottet hatte, plötzlich mit den grossen Staatsmännern der Welt – mit Bush, Gorbatschow, Thatcher und mit den Franzosen – auf ganz kluge Weise reden konnte.

Was war an seiner Art zu reden so klug?
Ich denke mir manchmal: Wäre Helmut Schmidt in dieser Zeit Kanzler gewesen, vielleicht hätten die anderen sich vor einem Deutschland, das dieser zackige Kanzler verkörperte, gefürchtet. Der Helmut Kohl in seiner behäbigen, manche haben gesagt: in seiner bräsigen Art, hat den Nachbarn und der Welt die Angst vor einem wiedervereinigten Deutschland genommen. Das war sein grosses Verdienst, und das haben die Deutschen gemerkt.

Seine dunkelsten Stunden hat Helmut Kohl mit der Entdeckung der schwarzen Konten seiner Partei, der CDU, erleben müssen. Wie konnte das einem Animal politique, einem Polittier, wie Helmut Kohl passieren?
Er war ja in der Frage schulduneinsichtig. Er hat nie den Spender genannt. Ich nehme an, es wird Leo Kirch gewesen sein. Ich habe ihn damals mit Kirch im Bayerischen Hof in München sitzen sehen, er sagte zu ihm: «Reden Sie ja nicht mit diesem Prantl, der dreht Ihnen das Wort im Munde um.» Das war mein letzter Satz, den ich mit Helmut Kohl gewechselt habe.

Kohl sah seine Schuld nicht ein?
Er hat – anders als andere – das Geld ja nicht für Häuser, Yachten, Pferde und Frauen verwendet, sondern er hat das Geld eingesetzt, um es in der CDU in seinem Sinn zu verwenden. Er hat es dem einen und anderen Ortsverband gegeben, um seine Macht zu sichern. Er hat gesagt, damit mache ich Politik, und das hielt er, glaube ich, bis zum Schluss für richtig.

Weil er sich selbst nicht bereichert hatte?
Ich habe einmal lange mit ihm über das grosse Einkommen von Wirtschaftsführern geredet. Er sah durchaus mit Neid, wie die Geld verdienten und wie vergleichsweise sparsam er doch bezahlt wurde. Geld war bei ihm Bimbes, das pfälzische Wort. Und er musste die 300’000 Mark für die Geldbusse zusammenkratzen, die er wegen der Spenden, die er eingesackt hatte, zahlen musste. Er musste eine Hypothek auf sein Haus aufnehmen, weil er das Geld nicht hatte. Das war nicht ein Dagobert Duck der Politik, der Geld an sich gerafft hat. Kohl hat Geld genommen und schwarze Kassen geführt, um Politik damit zu machen.

Helmut Kohl hat Ost- und Westdeutschland zusammengebracht, hat sich aber mit der Partei und schliesslich auch mit der Familie zerstritten. Wie kam es dazu?
Das ist die grosse Tragik im Leben Helmut Kohls: dass er immer auf Dankbarkeit gesetzt hat. Und wenn jemand nicht so dankbar war, wie er es wollte, war der für ihn gestorben. So kam es zum Bruch, nicht nur mit Heiner Geissler, der ihn absetzen wollte, weil er ihn nicht mehr für ausreichend fähig hielt. Es kam auch zum Bruch mit dem Treuesten der Treuen, mit Norbert Blüm, der immer der Sancho Panza war. Ich habe selber Telefonate erlebt, noch zu guten Zeiten, wie die beiden kokett, liebenswürdig miteinander umgingen. Auch mit Wolfgang Schäuble kam es zum Bruch.

Aber das erklärt noch nicht den Bruch mit der Familie.
Der Bruch mit den eigenen Kindern geht wohl auf die neue Ehefrau zurück. Maike Richter, 34 Jahre jünger, vertrug sich wohl mit den Kindern nicht mehr. Kohl sagte darauf, wenn das so ist, dann breche ich den Kontakt zu den Kindern ab. Die Tragik dieses grossen alten Mannes war, dass es am Schluss tatsächlich einsam um ihn wurde. Einsam in der Partei und einsam in der Familie. Das ist schon etwas, was einem ans Herz greift.

Helmut Kohl sah sich immer als historische Figur, wollte in die Geschichte eingehen. Wie wird er in die Geschichte eingehen?
Er ist schon in die Geschichte eingegangen. Er ist der Pater Patriae Europas, ganz eindeutig. Ohne ihn gäbe es die Europäische Union in dieser Form nicht. Klaus Kinkel, der frühere Aussenminister, hat mir einmal erzählt, wie es zuging in den letzten Jahren der Kanzlerschaft Kohl auf europäischen Ratssitzungen. Dieser Helmut Kohl, sagte er, hat sich geriert wie der Klassensprecher. Er hat den Mitterrand hergepfiffen: «François, komm hierher.» Er hat kommandiert, in seiner bärbeissig-freundlichen Art. Da kann man jetzt sagen, so geht man nicht mit anderen um. Aber er hat damit etwas erreicht – hat diese Europäische Union geschaffen. Das ist ein welthistorisches Verdienst. Die Europäische Union ist ein weltgeschichtliches Ereignis. Und dieser Helmut Kohl war die weltgeschichtliche Figur, die dieses Europa ermöglicht hat.

Dieses bisher unveröffentlichte Interview wurde im Juli 2015 geführt.

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