Jüngste Niederlage in Awdijiwka zeigt unangenehme Wahrheiten
Darum will den Ukrainern nichts mehr gelingen

Nach jahrelangen Kämpfen ist die Kleinstadt Awdijiwka vor einer Woche gefallen. Der symbolische Grosserfolg für Putin ist gefährlich für die Ukraine, weil er die Schwächen von Selenskis Truppen schonungslos aufzeigt.
Publiziert: 25.02.2024 um 18:19 Uhr
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Aktualisiert: 26.02.2024 um 12:09 Uhr
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

So hat sich die Ukraine den zweiten Jahrestag des Krieges nicht vorgestellt: Statt Erfolgsmeldungen machen Horrorgeschichten über den Fall der Kleinstadt Awdijiwka die Runde. Der blutige Sieg der Russen in der jahrelangen Schlacht um die Kohle-Stadt ist ein symbolischer Grosserfolg für Wladimir Putin (71).

Die Schlacht von Awdijiwka hat der Welt drei unangenehme Wahrheiten über den Krieg in der Ukraine gezeigt:

1

Die Moral der Ukrainer sinkt

Russen und Ukrainer stritten sich seit dem russischen Überfall auf den Donbass 2014 ununterbrochen um Awdijiwka. Tausende Ukrainer verloren bei der Verteidigung der Stadt ihr Leben. Viktor (26), ein Soldat der 110. Brigade der ukrainischen Armee, erzählt Blick via einen Übersetzer vor Ort, dass er mit seiner Einheit 620 Tage am Stück eine Position in der Stadt halten musste – ohne Pause. «Es gab keine Rotation, kaum jemand kriegte frei. Das war nicht nur psychisch schwierig, wir waren zuletzt auch physisch völlig ausser Form», erzählt der Soldat.

Nach jahrelangen Kämpfen ist die Kleinstadt Awdijiwka an die Russen gefallen.
Foto: AP
Nach jahrelangen Kämpfen ist die Kleinstadt Avdiivka an die Russen gefallen.
Foto: AP
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Besonders aufs Gemüt schlägt Viktor und den anderen Überlebenden der Schlacht das Schicksal von sechs verwundeten Kollegen, die sie in ihrem Versteck in Awdijiwka zurücklassen mussten. «Man hatte uns versprochen, dass man sie rausholen werde. Wir haben bis zuletzt daran geglaubt.» Als die Russen immer näher rückten und einer von Viktors Kollegen via Telefon Hilfe anforderte, sagte ihm der Kommandant: «Lasst die Verwundeten liegen, verbrennt alles.»

In einem Video, das einen Tag nach der Eroberung Awdijiwkas aufgetaucht ist, sind die Leichen der sechs Männer zu sehen. Russische Soldaten hatten sie exekutiert. Meldungen über vermeintlich Hunderte Ukrainer, die bei der Eroberung Avdiivkas von den Russen gefangen genommen worden sind, dementierte ein Armeesprecher gegenüber Blick.

Trotzdem zeigt der Fall von Awdijiwka, wie überfordert die ukrainischen Frontsoldaten mit der extremen Lage an der Front sind – und wie sehr es Präsident Wolodimir Selenski (46) an frischen Soldaten mangelt, die die ermüdeten Truppen ablösen könnten. Die von den Streitkräften geforderte neue Rekrutierungswelle, die 500'000 neue Rekruten bringen soll, wir derzeit im ukrainischen Parlament blockiert.

2

Die Russen setzen weiter auf die Zombie-Taktik

Wie viele Russen für die Eroberung der Kleinstadt ihr Leben lassen mussten, bleibt ein Rätsel. Der russische Militärblogger Andrey Morozov (†44), der sich diese Woche das Leben nahm, sprach von mindestens 16'000 Toten seit Oktober. Die ukrainischen Streitkräfte behaupten, rund 47'000 Russen seien beim Sturm auf die Donbass-Stadt ums Leben gekommen oder verwundet worden.

Klar ist: Die russische Taktik der «menschlichen Wellen» hat nach Bachmut auch in Awdijiwka funktioniert. Ohne Angst vor Verlusten schickten die russischen Kommandeure ihre Männer in die Schlacht. Die ermüdeten ukrainischen Soldaten konnten die immer neuen Angriffswellen irgendwann nicht mehr aufhalten. Russland hat dreimal so viele Einwohner wie die Ukraine. Putin kann sich die extreme Taktik der menschlichen Wellen noch lange leisten.

3

Der Ukraine fehlt ein entscheidendes Mittel

Eine Erfolgsmeldung gabs für die Ukraine diese Woche: Dänemark schickt sein gesamtes Artillerie-Arsenal nach Kiew. Das allein aber reicht nicht, um die Russen aufzuhalten. Seit Monaten müssen ukrainische Frontstellungen extrem sparsam umgehen mit ihrer Munition, während die Russen – aufgerüstet unter anderem von ihren Freunden in Nordkorea und im Iran – auf alles schiessen, was sich bewegt.

Private Sammelaktionen ukrainischer Soldaten, die Geld zusammenklauben für neue Drohnen, Fahrzeuge oder Nachtsichtgeräte, sind an der Tagesordnung. «Wir wissen alle, dass wir unseren Teil beitragen müssen, um eine Chance zu haben», erzählt Soldat Viktor.

Was der Ukraine am schmerzlichsten fehlt, sind genügend Luftabwehrressourcen. Während Putin persönlich in Russland gerade vier neue Überschallkampfbomber des Typs Tu-160 eingeweiht hat, mussten die ukrainischen Truppen in Awdijiwka wehrlos zusehen, wie russische Jets aus sicherer Distanz riesige Gleitbomben auf die Stadt abfeuerten. Die Ukraine hatte dem Bombenterror schlicht nichts entgegenzusetzen.

Zögert der Westen weiterhin und bleibt das neue Ukraine-Hilfspaket der Amerikaner noch länger im US-Parlament blockiert, wird sich die Ukraine nicht mehr lange gegen die anstürmenden Russen verteidigen können.

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