Hier flüchten die Einwohner aus den Medinas
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Video zeigt erstes Beben:Hier flüchten die Einwohner aus den Medinas

Jahrhundertbeben mit über 2000 Toten
Doch der König von Marokko lässt noch kaum internationale Helfer ins Land

Die Situation ist verheerend. Ganze Dörfer in den schwer zugänglichen Bergregionen wurden dem Erdboden gleichgemacht. Menschen graben mit blossen Händen nach Verschütteten. Jede Minute zählt. Helfer aus der ganzen Welt haben sich angeboten. Doch das Königreich zögert.
Publiziert: 10.09.2023 um 19:03 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2023 um 09:56 Uhr
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Myrte MüllerAussenreporterin News

Panik, Trauer, Entsetzen und Verzweiflung reisen schnell über Whatsapp und soziale Netzwerke. Noch bevor Rettungseinheiten in den betroffenen Gebieten eintreffen, örtliche Behörden das Ausmass der Katastrophe überblicken, wird die Welt bereits Zeuge menschlicher Dramen.

Die Szenen kommen aus der mittelalterlichen Altstadt von Marrakesch, aus Bergdörfern, von Marktplätzen. Menschen rennen in Panik durch die Gassen, während um sie herum die alten Gebäude wie Kartenhäuser kollabieren. Sie schreien und schluchzen. Das Entsetzen ist in ihren Gesichtern zu lesen. 

Wo noch Minuten vorher Häuser standen und ganze Familien schliefen, graben Menschen im Schein der Taschenlampen Trümmerteile um, in der Hoffnung, Verschüttete zu finden. Mit leerem Blick berichten Überlebende, wie sie im Beben ihre Verwandten verloren. Leichen werden in bunte Decken gewickelt, aufgereiht und in Massengräber gebracht, während die Menge aus Angst vor Nachbeben im Freien kampiert. Kleine Wunder im Beben-Horror landen im Netz: Ein Baby wird aus einem eingestürzten Gebäude gerettet, in ein Tuch gewickelt und dem Vater übergeben.

Soldaten graben mit blossen Händen in den Trümmern von Tafeghaghte. Das Dorf im Atlasgebirge liegt 60 Kilometer südwestlich von Marrakesch.
Foto: AFP
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Das Beben reisst die Menschen aus dem Schlaf

Es ist Freitagabend, Punkt 23.11 Uhr, als heftige Erdstösse den Boden heben, ein lautes Grollen die Menschen aus dem Schlaf reisst. Das Epizentrum ist im Atlasgebirge in einer Tiefe von 18,5 Kilometern. Gemessen wird eine Stärke von 6,9 auf der Richterskala. Ein Jahrhundertbeben für das nordafrikanische Land. Die Erdstösse erschüttern auch die 70 Kilometer entfernte Stadt Marrakesch, zerstört grosse Teile der Altstadt. Die sogenannte Medina ist Unesco-Weltkulturerbe. Das Beben ist in Casablanca, in der Hauptstadt Rabat, sogar in Algerien und Portugal zu spüren. Mehr als 300'000 Marokkaner seien vom Erdbeben betroffen, meldet die Weltgesundheitsorganisation WHO.

Besonders verzweifelt ist die Lage im Atlasgebirge. «Die am schlimmsten betroffenen Gebiete sind abgelegen und bergig und daher schwer zu erreichen», teilt die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC) mit. In der Zwischenzeit bebt die Erde weiter.

Die Zahl der Toten steigt im Stundentakt. Am Sonntagmorgen meldete Marokko 2012 Tote, 2059 Verletzte, davon kämpften über 1400 um ihr Leben. Doch die genau Opferzahl steht noch nicht fest. Sie wird voraussichtlich weit höher liegen. In manchen Orten ist noch gar keine Hilfe angekommen. König Mohammed VI. ordnete eine dreitägige Staatstrauer an.

Hilfsorganisationen und Regierungen bieten Hilfe an

Wenige Stunden nach dem ersten Beben mobilisiert sich bereits die Welt. Private Hilfsorganisation, NGOs und Regierungen bieten Soforthilfe für Marokko an. Staaten der EU, die USA und China kondolieren und reichen die Hand.

Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA würde Notunterkünfte, Wasseraufbereitung und -verteilung, sanitäre Einrichtungen und Hygienematerial zur Verfügung stellen. Ärzte ohne Grenzen stehen in den Startlöchern, ebenso das österreichische Bundesheer. Die Türkei stellt 265 erfahrene Einsatzkräfte und 1000 Zelte zur Verfügung.

Auch das deutsche Technische Hilfswerk bereitet sich auf den Einsatz vor. Das verfeindete Algerien öffnet seinen Luftraum für humanitäre Hilfe. Hilfseinsätze wurden auch aus Italien, Frankreich, Israel und den USA angeboten. Alle warten auf ein Zeichen des Königs. Denn ohne ein offizielles Hilfeersuchen des Monarchen wird keine Einreise erlaubt.

Rettungsmannschaften blockiert

«Die marokkanische Regierung blockiert alle internationalen Rettungsmannschaften», klagt unterdessen Arnaud Fraisse, Mediensprecherin der französischen Organisation «Secouristes sans frontieres» gegenüber französischen Medien.

Dabei tickt die Uhr. Die ersten 48 bis 72 Stunden nach dem Beben seien entscheidend, sagt Caroline Holt, Sprecherin beim Deutschen Roten Kreuz, zum Nachrichtensender Al Jazeera. Das mahnt auch Julian Hidalgo. «Die Zeit läuft», so der Koordinator der spanischen Hundestaffel der Feuerwehr von Sevilla. «Die Chancen, noch Überlebende unter den Trümmern zu finden, schwinden von Stunde zu Stunde.»

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