«Viele Leute hier tragen einen stillen Hass in sich»
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Blick-Reporter in Nazareth:«Viele Leute hier tragen einen stillen Hass in sich»

Israels riskante innere Front
In der Heimatstadt Jesu brodelt es gewaltig

Hundert Prozent der Bewohner der nordisraelischen Stadt Nazareth sind Palästinenser. Die Wut auf ihre Regierung steigt mit jedem Tag des Gaza-Krieges. Die israelische Polizei greift hart durch. Jetzt aber könnte die Stimmung der 90'000 Menschen hier kippen.
Publiziert: 08.11.2023 um 00:04 Uhr
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Aktualisiert: 08.04.2024 um 12:26 Uhr
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Nazareth, die Heimatstadt von Jesus Christus, treibt der Regierung von Premierminister Benjamin Netanyahu (74) den Schweiss auf die Stirn. Hundert Prozent der knapp 90'000 Menschen in der nordisraelischen City sind Palästinenser, unter ihnen auch viele Christen. Statt des David-Sterns prangten hier bis vor kurzem pro-palästinensische Graffiti an den Hauswänden. Die Polizei liess die «Free Palestine»-Slogans übermalen. Die wachsende Wut der Bevölkerung auf den Krieg ihrer Regierung gegen Gaza aber ist damit nicht verschwunden – im Gegenteil.

«Die Situation hier könnte jederzeit explodieren», sagt Suheil Diab (68), der langjährige Vize-Bürgermeister der Stadt. «Noch brodelt die Wut in Nazareth nur im Untergrund.» Doch die Bilder aus Gaza, zwei Autostunden südlich von hier, könnten die Stimmung zum Kippen bringen.

Im Nu müsste Netanyahus Regierung sich nicht nur vor den Raketen der Hamas und den Angriffen der libanesischen Hisbollah in Acht nehmen, sondern vor einer gefährlichen inneren Front. Fast jeder fünfte der neuneinhalb Millionen Einwohner Israels ist Palästinenser – die 2,3 Millionen Menschen in Gaza und die gut drei Millionen Einwohner des Westjordanlandes nicht mitgezählt!

Im Oktober 2000 gerieten sich die palästinensischen Bewohner von Nazareth (im Hintergrund die Verkündigungsbasilika) schon einmal mit der israelischen Polizei in die Haare.
Foto: AFP
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Am Sabbat übertönt die Musik das Kampfjetgedröhne

Massenproteste, gewaltsame Ausschreitungen, Sabotage: Alles sei denkbar, sagt Suheil Diab. «Die soziale Dynamik in Nazareth ist schwer vorherzusehen – und noch schwieriger zu kontrollieren.» Viele hier erinnern sich an den Oktober 2000, als in Nazareth viele mit dem bewaffneten palästinensischen Widerstand (Intifada) im Westjordanland sympathisierten und die israelische Polizei in der Stadt an einem einzigen Tag 13 Menschen erschoss.

«Israel hat uns Palästinenser seit jeher als Fremdkörper behandelt», sagt Diab in einer Hotellobby in der Altstadt. Glockengeläut und der Ruf des Muezzins tönen durch das vergitterte Fenster. In Nazareth wohnen Christen und Muslime Seite an Seite. Jüdische Besucher sieht man hier nur am Sabbat, wenn die Restaurants im Rest des Landes geschlossen sind und die Israelis in die Beizen von Nazareth strömen. Statt dem Gedröhne der Kampfjets, die von der nahen Luftwaffenbasis Angriffe auf syrische Ziele fliegen, tönt dann laute Musik durch die Gassen.

«Wir sind die Indianer dieser Gegend», sagt Diab. «Wir waren schon hier, als Israel 1948 gegründet wurde.» Anders als viele Palästinenser in anderen Landesteilen habe man sein Volk hier im Norden nicht vertrieben. «Und jetzt fürchten wir, dass es uns ähnlich ergehen könnte wie einst den Indianern in Amerika.»

2018 etwa machte die israelische Regierung den Palästinensern im Land deutlich, was sie von ihnen hält: Arabisch wurde als offizielle Landessprache gestrichen, jüdische Feiertage als Nationalsymbole festgeschrieben. Ein Affront gegenüber den fast zwei Millionen palästinensischen Bürgern in Israel.

«Wir lassen uns nicht vertreiben – diesen Fehler wiederholen wir nicht»

Die Schikanen im Alltag seien gewaltig, erfährt Blick von mehreren Gesprächspartnern in Nazareth, die aus Angst anonym bleiben wollen. So würden etwa ihre offiziellen Dokumente wie der Fahrausweis immer auf den 15. eines Monats ausgestellt, damit die Polizei sofort erkenne, dass es sich beim Gegenüber um einen palästinensischen Israeli handle.

Suheil Diab sagt, das sei erst der Anfang. «Israel wird versuchen, im Windschatten des 7. Oktobers das Palästinenser-Problem ein für alle Mal zu lösen.» Sein Volk aber werde sich nicht vertreiben lassen. «Diesen Fehler machten viele 1948 bei der Staatsgründung. Wir werden ihn nicht wiederholen. Lieber sterben wir hier.»

Am Fuss des Hügelzuges, auf dem Nazareth so malerisch liegt, verläuft das Armageddon-Tal, laut der Bibel der Ort der letzten grossen Entscheidungsschlacht. Kommt die jetzt? Angezettelt vielleicht gar nicht von den Hamas-Terroristen von ausserhalb, sondern von den erzürnten Palästinensern von innerhalb?

Man betet – aber nicht für Israel

Suheil Diab hofft es nicht. Er setzt sich ein für den Frieden – genau wie der Priester drüben in der Verkündigungsbasilika von Nazareth. Die Kirche ist der Jungfrau Maria gewidmet, die hier von ihrer Schwangerschaft erfahren haben soll. Mehrmals täglich lädt der Priester zum Gebet – explizit nicht für Israel, sondern für den Frieden. Den Terror der Hamas, die bei ihrem Angriff auf Israel am 7. Oktober auch arabische Israelis getötet hat, verurteilt man. Aber nicht allzu laut. Der Zulauf der gläubigen Palästinenser zu den Friedensgebeten, so erzählt es ein Besucher der Friedensgebete, sei gewaltig. Wenns im Irdischen nicht hinhaut, flieht man ins Himmlische.

Trotzdem ist es rund um die Basilika ruhiger als zu Friedenszeiten, wenn sich hier Gläubige aus aller Welt zu Gottesdiensten und Andachten versammeln. Statt der Pilgertouristen füllen jetzt die Bewohner aus 28 Gemeinden im äussersten Norden Israels die Hotelzimmer in Nazareth. Die israelische Regierung liess die Gegend, in der nebst Juden auch viele arabische Beduinen wohnen, zwangsevakuieren.

Gar nicht zur Freude der Menschen in Nazareth. «Israelis und Beduinen sind die schlimmsten Gäste, die du dir vorstellen kannst», sagt ein Hotelbesitzer zu Blick. «Ich wünsche mir die Schweizer zurück. Das sind die Anständigsten von allen.» Bis die wieder kommen, wird viel Zeit vergehen. Ob Nazareth den Weg zurück zum Frieden findet oder ob doch das neuzeitliche Armageddon droht, weiss niemand zu sagen.

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