Video löst politisches Erdbeben in Österreich aus
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Wegen Skandal-Video:Nach Video und Straches Rücktritt folgen Neuwahlen

Interview mit Kanzler-Biograf Paul Ronzheimer
«Kurz hätte früher die Reissleine ziehen müssen»

Im BLICK-Interview analysiert Kurz-Biograf und Österreich-Kenner Paul Ronzheimer die angespannte Lage in unserem Nachbarland. Er sagt, wie es nach dem Platzen der Regierungskoalition in Österreich weitergeht – und was das Ganze für Kanzler Sebastian Kurz bedeutet.
Publiziert: 20.05.2019 um 01:52 Uhr
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Aktualisiert: 20.05.2019 um 10:05 Uhr
Interview: Daniel Riedel

Die österreichische Regierungskoalition aus ÖVP und FPÖ liegt seit dem Wochenende in Trümmern. Grund: Ein pikantes Sechs-Stunden-Video aus Ibiza, in dem sich Vizekanzler Heinz-Christian Strache (49) betrunken um Kopf und Kragen redet. Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz (32) zog die Reissleine: «Genug ist genug!» – und kündigte Neuwahlen an. Im BLICK-Interview analysiert sein Biograf, der «Bild»-Chefreporter Paul Ronzheimer (34), die Staatskrise und zeigt auf, welche Konsequenzen der Eklat um den Koalitionspartner für Shootingstar Kurz haben wird.

BLICK: Herr Ronzheimer, seit wann weiss Sebastian Kurz vom verfänglichen Video?
Paul Ronzheimer: Am Donnerstag gab es erste Informationen, dass der «Spiegel» und die «Süddeutsche Zeitung» mit verfänglichem Material auf den Markt gehen werden. Der Inhalt und die Sprengkraft der Aussagen seines Vizekanzlers dürften Kurz aber auch erst am Freitagabend beziehungsweise Samstag früh bewusst gewesen sein.

Es hat dennoch lange gedauert, bis Kurz sich öffentlich dazu äusserte.
Ja, im Hintergrund wurde anfangs sogar über eine Fortführung der Koalition diskutiert. Natürlich ohne Vizekanzler Strache, aber weiter mit der FPÖ.

Am Grenzübergang zu Ungarn: Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (l.) im Gespräch mit «Bild»-Chefreporter Paul Ronzheimer.
Foto: DANIEL BISKUP
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Woraus resultiert diese Treue zur FPÖ?
Man darf nicht vergessen, dass es schon zu Beginn der Koalition und auch im Wahlkampf 2017 grosse Ressentiments gegen eine FPÖ-Regierungsbeteiligung gab. Kurz hat sie gegen alle Bedenken durchgeboxt – das verbindet. Ausserdem wusste er, dass die FPÖ durchaus dienlich sein könnte.

Inwiefern?
Der FPÖ ging es nach der Wahl hauptsächlich um Posten, nicht um Inhalte. Kurz konnte seine Reformen mit wenig Widerstand durchsetzen. Sämtliche Erfolge der Koalition in Sachen Steuer-, Sozial- und Asylreformen konnte er sich ans Revers heften.

Der Widerstand gegen die Koalition war trotz politischer Erfolge enorm. Im Aus- wie im Inland.
Ja. Kurz hat schon zu Beginn einige Fehler begangen und wichtigste Ministerien mit FPÖ-Köpfen besetzt. Auch Innenminister Kickl war mit seiner Nähe zu den Identitären ein ständiger Risikofaktor. Heute ist klar, Kurz hätte früher die Reissleine ziehen müssen.

Er hätte ja eigentlich wöchentlich Grund dazu gehabt.
Kurz hat geglaubt, dass nicht jeder FPÖ-Ausrutscher mit ihm in Verbindung gebracht würde. Ein fataler Irrglaube, denn jede Dorfposse wurde durch die Regierungsbeteiligung zum nationalen Thema.

So geht es jetzt in Österreich weiter

Der Schock über das Sechs-Stunden-Video sitzt tief in Österreich. Eine Krisensitzung jagt die nächste. Bundespräsident Alexander Van der Bellen (75) hat gestern die Neuwahl auf Anfang September terminiert. Kanzler Sebastian Kurz (32) teilte mit, dass er die Koalition mit der FPÖ beenden und das Video auf strafrechtliche Relevanz überprüfen werde. Damit könnte zum Beispiel ein Machtmissbrauch von seinem Vize Heinz-Christian Strache (49) gemeint sein. Ob die FPÖ-Ministerinnen und -Minister bis zu den Neuwahlen überhaupt im Amt bleiben dürfen oder sofort gehen müssen, ist noch nicht entschieden. Bis September gibt es drei Optionen: 1. Van der Bellen kann die gesamte Regierung ohne die Bitte von Kurz entlassen. 2. Kurz kann einzelne Entlassungen vorschlagen, Van der Bellen muss dann nur noch zustimmen. 3. Die Regierung bleibt im Amt, bis es eine neue gibt.

Der Schock über das Sechs-Stunden-Video sitzt tief in Österreich. Eine Krisensitzung jagt die nächste. Bundespräsident Alexander Van der Bellen (75) hat gestern die Neuwahl auf Anfang September terminiert. Kanzler Sebastian Kurz (32) teilte mit, dass er die Koalition mit der FPÖ beenden und das Video auf strafrechtliche Relevanz überprüfen werde. Damit könnte zum Beispiel ein Machtmissbrauch von seinem Vize Heinz-Christian Strache (49) gemeint sein. Ob die FPÖ-Ministerinnen und -Minister bis zu den Neuwahlen überhaupt im Amt bleiben dürfen oder sofort gehen müssen, ist noch nicht entschieden. Bis September gibt es drei Optionen: 1. Van der Bellen kann die gesamte Regierung ohne die Bitte von Kurz entlassen. 2. Kurz kann einzelne Entlassungen vorschlagen, Van der Bellen muss dann nur noch zustimmen. 3. Die Regierung bleibt im Amt, bis es eine neue gibt.

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Ist jetzt auch die Karriere von Kurz beendet?
Ich denke nicht. Wenn er die Chance für einen Neuanfang glaubhaft wahrnimmt, kann er diese Krise überstehen. Aber er muss wissen, dass sich die FPÖ ab jetzt in der Opferrolle sieht – und komplett gegen ihn schiessen wird.

Meinen Sie damit auch die Andeutungen von Strache im Video? Dort ist die Rede von Sexpartys und Drogenexzessen des Jungkanzlers.
Diese Vorwürfe erscheinen mir ziemlich hanebüchen. Sie wurden ja auch nicht gross von den Medien aufgegriffen.

Am kommenden Sonntag sind Europawahlen, im September dann Neuwahlen. Wird die FPÖ nun abgestraft?
Die FPÖ hat eine hohe Stammwählerschaft. Sollte es der Partei gelingen, sich als Opfer einer Polit-Intrige darzustellen, könnte es schwierig für Kurz werden, die FPÖ-Stimmen für die ÖVP zu gewinnen. Zumal mit Norbert Hofer ein Mann der Partei vorsteht, der bei vielen Wählern gut ankommt – und sogar um ein Haar Bundespräsident geworden wäre.

Was wären denn die Regierungsoptionen? Mit der FPÖ wird es ja wohl kein zweites Mal geben.
Nein, das Tischtuch ist für immer und ewig zerschnitten. Auch eine absolute Mehrheit für Kurz, also weit mehr als 40 Prozent, scheint ausgeschlossen.

Also doch wieder eine Grosse Koalition?
Die SPÖ befindet sich ebenfalls in der Krise. Ausserdem ging die letzte Grosse Koalition als «Regierung des Stillstands» in die Geschichte ein – und war 2017 ja auch der Auslöser für das umstrittene ÖVP-FPÖ-Bündnis.

Krisen-Reporter und Kurz-Kenner

Paul Ronzheimer (33) ist Chefreporter im Politikressort der «Bild»-Zeitung. Seit 2011 berichtet er aus Krisen- und Kriegsregionen. 2016 erhielt er für eine Reportage, für die er junge Syrer auf ihrer Flucht nach Deutschland begleitete, den Axel-Springer-Preis für junge Journalisten. Anfang 2018 erschien seine Biografie über Sebastian Kurz. Ronzheimer gilt als Kenner des österreichischen Polit-Betriebs, er lebt in Berlin und Bad Gastein (A).

Paul Ronzheimer (33) ist Chefreporter im Politikressort der «Bild»-Zeitung. Seit 2011 berichtet er aus Krisen- und Kriegsregionen. 2016 erhielt er für eine Reportage, für die er junge Syrer auf ihrer Flucht nach Deutschland begleitete, den Axel-Springer-Preis für junge Journalisten. Anfang 2018 erschien seine Biografie über Sebastian Kurz. Ronzheimer gilt als Kenner des österreichischen Polit-Betriebs, er lebt in Berlin und Bad Gastein (A).

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